M 01.09 Die Entwicklung der Freizeit
 


Betrachtet man den Umfang und die Entwicklung von Freizeit aus kulturhistorischer Perspektive, so wird Freizeit vorrangig in Relation zur Arbeitszeit gesehen.

Bereits in der Antike und in primitiven Agrargesellschaften gab es Ruhe-, Fest- und Feiertage, die zeitlich gesehen teilweise sogar die Hälfte des Jahres ausmachten. In der aristokratischen Gesellschaft der Hellenen mussten Sklaven die Arbeit verrichten, damit freie Bürger/innen sich der Politik und Kunst widmen konnten.

Im 13. Jahrhundert war in Europa für eine Reihe von Berufen die Nacht- und Sonntagsarbeit verboten, und Handwerker bekamen beispielsweise zusätzlich zu den 141 Ruhetagen 30 weitere Tage Ferien zugesprochen. Ab dem 15. Jahrhundert nahm die Anzahl der Ruhetage jedoch stetig ab. In dieser Zeit waren Arbeitsplatz und Ort der Freizeit noch nicht deutlich voneinander getrennt, da oft auch die Wohnung zugleich Arbeitsstätte war.

Mit Beginn der Industrialisierung, die sich in Europa auf die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts datieren lässt, wurden zunehmend Arbeitszeit und Freizeit räumlich, inhaltlich und bewusstseinsmäßig voneinander getrennt. Die neue Arbeit fand nun an eigens dafür vorgesehenen Orten, den Fabriken statt. Der Trend, dass viele Menschen immer mehr Zeit für die Arbeit aufbringen mussten, um ihre materiellen Bedürfnisse zu befriedigen, hielt an. So war ein Arbeiter (und oftmals auch seine Familienangehörigen) 1848 gezwungen, einen Arbeitstag von ca. 16 Stunden und eine Jahresarbeitszeit von 52 Wochen abzuleisten. Sogar Kinder mussten bis zu 12 Stunden arbeiten. Diese Entwicklung war nicht zuletzt eine Folge von Bevölkerungswachstum, zunehmender Verstädterung sowie dem damit einhergehenden Überangebot an Arbeitskräften und sinkenden Löhnen.

Freizeit ist demnach das Ergebnis der technologischen, ökonomischen und kulturellen Wandlungen des 19. Jahrhunderts, die Folge des Aufkommens der großen Industrie, das heißt rationaler Arbeitsorganisation, zunehmender Arbeitsteilung und Werkdisziplin, die Konsequenz des Auseinandertretens von Arbeitsbereich und häuslichem Bereich, von Arbeits- und Familienleben und damit auch: von Arbeitszeit und arbeitsfreier Zeit.

Nach und nach erkämpften die Gewerkschaften mehr arbeitsfreie Zeit. Zunächst wurde 1908 die Arbeitszeit für Frauen auf 10 Stunden pro Tag herabgesetzt. 11 Jahre später (1919) wurde der Acht-Stunden-Tag eingeführt.

Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde die Vereinbarung über eine tägliche Arbeitszeit von acht Stunden aufgehoben. Sie trat erst 1946 wieder in Kraft. In mehreren Schritten sank die gesetzlich festgelegte Arbeitszeit in der Bundesrepublik - stets vorangetrieben durch gewerkschaftliche Forderungen: von der Einführung des arbeitsfreien Samstags über die 38,5-Stunden-Woche, die 1984 in den Tarifbereichen der IG Metall eingeführt wurde, bis hin zu dem heutigen Streit um die Flexibilisierung der (Lebens-) Arbeitszeit und Freizeit.

Für das Jahr 2010 wird eine weitere Zunahme der Tagesfreizeit und eine 4-Tage-Arbeitswoche prognostiziert, wie sie z.B. derzeit bei VW bereits praktiziert wird . Allerdings ist ein neuer, eher gegenläufiger Trend erkennbar, der mit einer Flexibilisierung auch auf eine Verlängerung und Intensivierung der Arbeitszeit abzielt, um Maschinenlaufzeiten zu verbessern und vorhandene Fachkräfte effizienter zu nutzen.

Die folgenden Diagramme machen die Hauptentwicklungslinien, die durch die Zunahme an Freizeit und den Rückgang der Arbeitszeit gekennzeichnet sind, deutlich:

fm_m0109.gif
Quelle: : Stehr, Ilona/Nahrstedt, Wolfgang/Beckmann, Kathrin, Freizeit-Barometer. Daten -Analysen - Trends für die 90er Jahre, Bielefeld 1992 S. 34-35.

Bis in die 50er Jahre diente die arbeitsfreie Zeit vornehmlich der Regeneration der Arbeitskraft und der Muße. Doch bereits in den 60er Jahren gewann die Befriedigung materieller und konsumorientierter Wünsche in der Freizeit an Bedeutung. In den darauffolgenden Jahrzehnten rückte das Bestreben nach Selbstverwirklichung, Persönlichkeitsentwicklung und Erlebnisorientierung in der Freizeit immer mehr in den Vordergrund. Freizeit wird zur Erlebniszeit; eine Zeit, die auf ein gemeinsames Erleben und auf die Entwicklung eines eigenen Lebensstils ausgerichtet ist. Der Trend, dass das wiedererkämpfte Quantum an Freizeit durch die gegenwärtigen Lebensbedingungen und den modernen Lebensstil (längere Arbeitswege, Zwang zur Weiterbildung, Leistungsdruck, Hektik u.a.) größtenteils wieder aufgehoben wird, scheint sich fortzusetzen.

(eigener Text)
-> drucken