M 01.11 Stress in der Freizeit
 


Vom Stress, ein Freizeitkonsument zu sein

Die Länge des Tages ist unverändert geblieben, die Arbeitszeit deutlich geringer und die freie Zeit immer kostbarer geworden. Zugleich wird die Zeit für mußevolle Beschäftigungen immer knapper. Die Freizeitbeschäftigung "Aus dem Fenster sehen" ist fast ausgestorben, die Zeiten für gemeinsame Mahlzeiten in der Familie werden immer kürzer und manche Mahlzeiten im fast-food-Stil beinahe im Laufschritt eingenommen.

Die Vielfalt von Freizeitangeboten und Konsumansprüchen bereitet immer mehr Zeitprobleme: Knapp drei Viertel aller Bundesbürger (73%) klagen darüber, dass ihnen das Menschengedränge bei Freizeitveranstaltungen zunehmend auf die Nerven geht. Die Bundesbürger kommen nach der Arbeit immer weniger zur Ruhe.

Die Befragungsergebnisse zeigen zugleich die Grenzen der Individualisierung des Freizeitkonsumenten der Zukunft auf: Vom Kontaktstress befreit geht sich jeder dritte Bundesbürger schließlich selbst auf die Nerven. 33 Prozent der Bevölkerung können es nicht ertragen, nach der Betriebsamkeit des Tages "in völliger Stille mit sich allein" zu sein. Sie sehnen sich wieder danach, etwas tun zu müssen, wozu sie eigentlich keine Lust haben...


Rastlos nach Feierabend: "Freizeitstress"

Der Stressbegriff in der wissenschaftlichen Diskussion muss überdacht und erweitert werden.Wir wissen, dass ständige Leistungsanforderungen, Klassenarbeiten oder der "blaue Brief" an die Eltern Schulstress erzeugen können. Es ist bekannt, dass körperliche und nervliche Arbeitsüberlastungen, Zeit- und Termindruck oder Angst vor Arbeitslosigkeit bedrohliche Stresssituationen hervorrufen.

Beim Freizeitstress hingegen handelt es sich um die Anhäufung vergleichsweise kleiner physischer und psychischer Belastungen, die sich ständig wiederholen und auf Dauer Stress verursachen: Aktivitätenstress beim Jogging und Langlauf, Kontaktstress in der Clique oder in Gesellschaft, Lärmstress bei Feiern oder Massenveranstaltungen. Die Stressbelastungen sind hier subtiler und nicht selten selbst auferlegt.

Aus der Stressforschung ist bekannt, dass täglicher Kleinärger und chronische, sich ständig wiederholende Belastungen des täglichen Lebens für die Gesundheit gefährlicher als die großen Schicksalsschläge des Lebens sind. Der amerikanische Psychologe Richard S. Lazarus wies nach, dass ein Großteil des Stresses aus den kleinen, aber häufigen Ärgernissen des täglichen Lebens resultiert und körperliche und seelische Erkrankungen zur Folge haben kann: Die tägliche Langeweile, die Isolierung und Vereinsamung, die Sinn und Interesselosigkeit, die ständigen Spannungen in der Familie und im Freundeskreis, der chronische Rollendruck in der Freizeitclique, die Besuchspflichten, die Qual der Wahl, das Zu-viel-am-Hals-Haben, das Gefühl von Zeitnot, von ständiger Anforderung und Überforderung, von Rastlosigkeit und innerer Unruhe, von Hetzen und Hektik (vgl. Lazarus 1982). So entsteht Dauerstress, ein bedrohlicher Übergang vom Berufsstress in den Freizeitstress, ohne zur Ruhe und Entspannung zu kommen. (...)


Jugendliche im Freizeitstress

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Den Konsum-Imperativ "Bleiben Sie dran!" erleben sie als eine einzige Stress-Rallye. Die ständige Anforderung droht zur Überforderung zu werden. So nehmen sich Jugendliche vor allem an Wochenenden mehr vor, als sie eigentlich schaffen können. Jugendlicher: "Mit dem Freizeitstress ist es wie mit dem Tagespass beim Skifahren: Man muss unbedingt weiterfahren, obwohl man eigentlich schon kaputt ist".

Damit scheint sich eine Befürchtung zu bestätigen, die schon vor über zwanzig Jahren von seiten der Pädagogik geäußert wurde: Die Überfülle des Konsums, die wir heute noch begehren, könne uns "morgen widerwärtig sein", wenn die Menschen nicht vorher gefragt würden, ob sie dies eigentlich alles wollen oder nicht. Am Ende würden die Menschen diese Konsumwelt, diesen Vergnügungs- und Ablenkungsschwindel "im Zorn zerschlagen" (H. von Hentig 1972, S. 172). Statt die Reize zu verfeinern, wozu auch die intellektuelle und moralische Reizempfänglichkeit gehöre, werde immer nur von neuem der Reizhunger bis zur Übersättigung gesteigert. Die Folge ist: Konsumieren macht am Ende keinen Spaß mehr. Überfluss verwandelt sich in Überdruss: Aus Spaß wird Stress, aus Nervosität Aggressivität. Gefühle von Ärger, Hass und Zerstörungswut kommen auf. So kann Konsumlust durch Überreizung in Frustration und Aggression enden - auch ein Indiz für die in der Psychologie vertretene "Frustrations-Aggressions-Theorie" (Dollard 1939; Berkowitz 1962 und 1974).

Die Reizüberflutung der Konsum- (und Medien-)gesellschaft kann als eine von mehreren möglichen anderen Ursachen für die Zunahme von Aggressivität und Gewalt bei Jugendlichen angesehen werden.


Empfehlungen zum Abbau von Freizeitstress

Konkrete Empfehlungen zum Abbau von Freizeitstress können nur Beispielcharakter haben:

  • Freizeitstress ist weitgehend selbstgemacht, also können wir auch selbst etwas dagegen tun. Vielleicht ist manchem von uns schon geholfen, wenn wir den Satz "eigentlich musste ich" aus unserem persönlichen Wortschatz streichen.
  • Wir sollten mehr Ventile und Notausgänge zum Flüchten einplanen oder auf unseren inneren Stressschutzschalter vertrauen. Dazu gehört auch der Mut, sich gelegentlich aus dem alltäglichen Rollendruck zu befreien, wonach "das inner Gleiche zur gleichen Zeit" gemacht werden "muss".
  • Wir sollten - jeder für sich - zum eigenen Zeitverteidiger werden und uns auch nicht scheuen, einen privaten Kalender anzulegen, der drei Zeiträume ausweist: Zeit mit anderen, Zeit für sich und Zeit für nichts. Letzteres ist ein Anti-Termin, unverplant und offen für alles. Trennen wir uns von dem Gedanken: "Am Wochenende muss alles passieren", was in der Woche zu kurz kommt. Damit macht man sich nur zum Opfer seiner eigenen Ansprüche. Auch die Formel "Am Wochenende machen wir alles gemeinsam" sollte nicht unumstößlich sein. Jeder braucht seinen Frei-Raum und seine Frei-Zeit, seine kleine Rückzugsnische.
  • Zudem benötigen wir einen Ordnungsfaktor, der uns das Aussteigen aus der Stress-Rallye erleichtert: Das kann der Saunagang, das Hund-Ausführen, der Kirchenbesuch oder das bloße Luftschnappen und Spazierengehen um den Häuserblock sein.
  • Faulenzen ist etwas anderes als Nichtstun oder Zeittotschlagen. Beim Nichtstun passiert nichts, beim Faulenzen will ich etwas. Faulenzen ist bewusstes Laissez-faire und geplantes Kräftesammeln. Man muss auch einmal in den Tag hineinleben und von Herzen faul ohne schlechtes Gewissen sein können.
  • Entdecken wir die Hängematte wieder, das wirkliche oder gedankliche Beine-Hochlegen und Entspannen, das Zeit-für-sich-selber-Finden, das Zeit-Haben-und-Genießen.

Nie zuvor waren die Menschen einem solchen Angebotsstress ausgesetzt wie heute. Ständig müssen wir uns entscheiden, ob wir etwas machen oder haben, selektiv nutzen oder ganz darauf verzichten wollen. Die Schlüsselfragen unseres Lebens können daher nur lauten:

  • Was ist eigentlich für mich wichtig und was nicht?
  • Woher nehme ich den Mut, auch nein zu sagen?
  • Und wie schaffe ich es, mich zu bescheiden, auch auf die Gefahr hin, etwas zu verpassen?

Die konkrete Empfehlung zum Abbau von Freizeitstress kann nur lauten: Lieber einmal etwas verpassen als immer dabei sein.

Quelle: Horst W. Opaschowski: Einführung in die Freizeitwissenschaft. 3. aktualisierte und erweiterte Auflage. S. 228 - 239. Leske + Budrich Opladen 1997, S. 228 - 239.
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