M 02.06 Fernsehen als Informationsmedium
 


"Femsehen dient Jugendlichen nicht nur zur Unterhaltung, wie vielfach angenommen, sondern auch zur Information über subjektiv wichtige Themen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Untersuchung, die das JFF-Institut für Medienpädagogik in Forschung und Praxis, München in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Medienpädagogik und Erwachsenenbildung der Universität Leipzig durchgeführt hat. [...]

Chancen und Barrieren im Umgang mit Fernsehinformation

Chance oder Barriere Nummer 1: Das Alter
Sowohl die Nutzung informativer Sendungen als auch die Bewertung des Angebots steht im Zusammenhang mit Faktoren, die vor allem im sozialen Umfeld der Mädchen und Jungen zu finden sind, oder aber mit dem Alter bzw. dem Geschlecht zu tun haben. Politisches sowie offizielle Politik nehmen Heranwachsende, die erst am Beginn des Jugendalters stehen, noch kaum wahr. Sie sind in der Regel noch nicht so weit, sich selbst als Teile des politischen Systems zu sehen. Mit Politik verbinden sie Personen wie den Bundeskanzler oder Strukturen wie Regierung oder Parteien. [...]

Ab 14 bis 15 Jahren zwei Gruppen von Info-Nutzern
Mit zunehmendem Alter der Heranwachsenden wird ihr Horizont zusehends breiter. Sachverhalte können auch abstrakt erfasst werden, eine direkte Verbindung von Ereignissen und Vorgängen zum eigenen Alltag ist nicht mehr unbedingt notwendig. Etwa im Alter von 14 bis 15 Jahren verfestigen sich sowohl die Interessen als auch die Sehgewohnheiten der Jugendlichen. Ausschlaggebend für die Richtung des Interesses wie auch für die Nutzungspräferenzen sind die eigene Bildung und das Anregungsmilieu des sozialen Umfelds, also der Familie, aber auch der Peer-Group. Ab diesem Zeitpunkt lassen sich die Heranwachsenden grob in zwei Gruppen unterteilen: Auf der einen Seite die Gruppe derer, die an Politischem und gesellschaftlich Relevantem nur wenig bis gar kein Interesse zeigt und nur sich selbst im Blick hat. Auf der anderen Seite steht die Gruppe mit einer sozialen Orientierung, die auf dem Laufenden darüber sein möchte, was um sie herum und in der Welt geschieht. [...]

Chance oder Barriere Nummer 2: Die eigene Bildung
Je höher die Schulbildung ist, desto leichter fällt es den Jugendlichen, Zusammenhänge zu erfassen, Information kritisch zu betrachten und Relevantes von Irrelevantem zu trennen. So weist schon eine 13-Jährige, die eine höhere Schule besucht, darauf hin, dass ihr Interesse an offizieller Politik zum ersten Mal im Unterricht geweckt wurde. [...]

Formal höhere Bildung begünstigt politisches Interesse
Was sich bei dieser 13-Jährigen andeutet, findet bei den älteren Jugendlichen seine Fortsetzung. Zum Beispiel bei einem 16-jährigen Gymnasiasten, der sich regelmäßig klassische politische Information im Femsehen ansieht, um bei den Diskussionen, die im Unterricht geführt werden, fundiert mitreden zu können. Oder bei einer Gleichaltrigen, die ebenfalls das Gymnasium besucht und dort vor allem in ihrem Geschichtslehrer einen wertvollen Gesprächspartner für die Auseinandersetzung mit gesellschaftlich Relevantem findet. Von solchen Anstößen und Hilfen erzählen die Jugendlichen mit formal niedriger Schulbildung nichts. Auffällig ist aber, dass ihre Sehgewohnheiten, wenn es um Information geht, weitgehend auf Boulevardmagazine und Daily Talks beschränkt sind. Zwar nehmen auch sie Nachrichtensendungen wahr, allerdings weder regelmäßig noch gezielt. [...]

Beispiele aus den Intensivinterviews
Welche gesellschaftliche Stellung die Jugendlichen haben, beeinflusst auch ihre Einstellung zu Politik und Gesellschaft und ihren Umgang mit Femsehinformation. Dies soll an drei Beispielen – alle drei Jugendlichen sind 16 Jahre alt – verdeutlicht werden.

Beispiel 1: Politisch interessiert, aber kein Interesse an politischen Sendungen
Michael steckt mitten in einer handwerklichen Berufsausbildung. Es ist zwar nicht sein Traumberuf, den er lernt, aber der enge Lehrstellenmarkt und die Einstellung, dass es wichtig ist, eine Ausbildung zu absolvieren, haben ihn überzeugt, dass es nicht viel Sinn hat, wählerisch zu sein. Michael ist Punk. Er denkt und handelt politisch und lehnt jedwedes Establishment ab. Seine Einstellung trägt er mit seinem Äußeren und seinem Auftreten vor sich her und diskutiert sie auch mit anderen bzw. Andersdenkenden. Dennoch überlegt er auch, wo seine Prioritäten liegen. So hat er sich von seinem bunten Irokesen-Haarschnitt getrennt, weil er erfähren hat, dass er damit bei der Arbeit auf Schwierigkeiten stößt.

Für Michael ist es wichtig, dass er darüber iinformiert ist, was in der Politik und auf der Welt vor sich geht. Nur so kann er seine Meinung immer wieder überprüfen und neu argumentieren. Seine Informationen stammen aus personalen Quellen, aus der Presse, Büchern und dem Fernsehen. Das Femsehen spielt dabei allerdings keine große Rolle. Er sieht sich ab und zu Nachrichtensendungen an, vor allem aber gezielt Dokumentationen, die ihn interessieren. Daneben sieht er aber auch regelmäßig Boulevardmagazine. Diese liegen am Vorabend, wenn er von der Arbeit nach Hause kommt, und sind genau das Richtige zum Entspannen: Abwechslungsreich und unterhaltsam. Darauf gründet sich auch seine Kritik an den klassischen Informationssendungen. Sie werden "ziemlich trocken rübergebracht [...] da stiebt es, wenn die quatschen."

Beispiel 2: "Worüber man Bescheid wissen sollte: Kriminalität und so..."
Jessica absolviert in Ermangelung eines Ausbildungsplatzes ein berufsvorbereitendes Jahr. Ihr Interesse an Politischem und gesellschaftlich Relevantem ist nicht sehr ausgeprägt. In Anbetracht ihrer eigenen Situation interessiert sie sich aber doch für das Geschehen rund um den angespannten Arbeitsmarkt und versucht Gründe dafür zu finden. Einen dieser Gründe, der ihr plausibel scheint, sieht sie in den Ausländerinnen und Ausländem, die in Deutschland leben, und ihrer Meinung nach Arbeitsstellen besetzen, die den deutschen Arbeitssuchenden fehlen. Jessica ist der Ansicht, dass es wichtig ist, informiert zu sein, und zwar über die Dinge, "worüber die Menschen eigentlich Bescheid wissen sollten [...] Kriminalität oder was eben so passiert". Diese Informationen erhält sie in den Boulevardmagazinen, zum Beispiel in "Explosiv". Hier werden "nicht nur so stupide Nachrichten [gezeigt], sondern es ist eben auch so eine gemischte Sendung."

Beispiel 3: Nutzung von "Tagesschau" und "Tagesthemen" sowie Zeitungen
Vera besucht das Gymnasium und ist eine ehrgeizige Schülerin. Sie möchte später gern Journalistin werden. Geschichte und Literatur sind die Bereiche, die sie besonders interessieren. Ihr Hauptinteresse gilt der Geschichte des Dritten Reiches. Politik ist für sie ohne Geschichte nicht denkbar. Sie ist der Meinung, dass man die Geschichte eines Landes kennen muss, um daraus Konsequenzen für die aktuelle Situation zu ziehen. Ein aktuelles Thema, das sie stark beschäftigt, ist eine Tendenz zum Rechtsextremismus, die sie vor allem bei Jugendlichen feststellt. Sie glaubt, dass ein Grund dafür die Nicht-Informiertheit vieler Mädchen und Jungen über den Nationalsozialismus des Dritten Reiches ist. Sie selbst liest Bücher darüber, diskutiert in der Schule, informiert sich in einer Wochenzeitung und sieht sich dokumentarische Sendungen zum Thema an. Darüber hinaus interessiert sie sich aber auch dafür, was sonst um sie herum und in der Welt passiert. Um darüber auf dem Laufenden zu bleiben, sieht sie sich täglich die "Tagesschau" oder die "Tagesthemen" an und wendet sich für tiefer gehende Informationen und Hintergründe der Tages- oder Wochenzeitung zu, denn dort kann man "sich dann auch raussuchen was einen da wirklich interessiert".

Chance oder Barriere Nummer 3: Bildung und sozialer Status der Eltern
Die Eltern sind besonders für die Jüngeren ein wichtiger orientierender Faktor, wenn es um Informationssuche und -aufnahme geht. An ihnen beobachten sie sowohl die Einstellung zu politischen und gesellschaftlichen Themen als auch ihre präferierten Informationsquellen. Je jünger die Mädchen und Jungen sind, umso mehr sehen sie noch mit den Eltern gemeinsam fern und werden an deren Sendungsvorlieben herangeführt. Schließlich sind die Eltern wichtige Gesprächspartner ihrer Kinder für viele Themen. Aber auch in Bezug auf die gesamte Altersgruppe der Zwölf- bis 17-jährigen sind die Eltern interessant, da die Jugendlichen in vielen Fällen übernehmen, was sie an Ihnen beobachtet haben. Wie die Einstellungen und Präferenzen der Eltern sind, hängt vielfach mit ihrem sozialen Status zusammen.

Elternhaus mit niedrigem Sozialstatus begünstigt "Versorgungshaltung" gegenüber Politik
In der Untersuchung zeigte sich deutlich, dass Mädchen und Jungen, die aus einem Elternhaus mit niedriger Bildung und/oder niedrigem sozialen Status stammen, häufig kaum Zugang zu politischen oder allgemein-gesellschaftlich relevanten Themen haben. Sie sehen sich vor allem in zweierlei Hinsicht als Teil des politischen Systems. Einmal insofern als von der Politik Gesetze und Regeln erlassen werden, denen sie sich beugen müssen. Zum zweiten sind sie der Meinung, dass die Politik ihnen gegenüber eine "Bringschuld" hat. Sie hat dafür zu sorgen, dass es ihnen so gut wie möglich geht. Es ist die Aufgabe der Politik bzw. ihrer Vertreterinnen und Vertreter, genügend Arbeitsplätze zu schaffen, die Kriminalität einzudämmen, das Ausländerproblem zu lösen usw. Wie sie selbst zur Lösung der Probleme bzw. zur Politik insgesamt beitragen könnten, wissen sie nicht, es interessiert sie aber auch nicht, da sie keinen Grund für einen eigenen Beitrag sehen. Politik und politische Themen sind ihnen insgesamt äußerlich.
Femsehinformation nutzen sie, um zu erfahren, wie andere Menschen leben und mit ihrer Situation zurechtkommen. Sie interessieren sich für Katastrophen, Sensationen, Einzelschicksale, die Menschen betreffen, mit denen sie sich identifizieren können. Aus diesen Informationen glauben sie, auch für ihr eigenes Leben etwas lernen zu können. [...]

Kinder von Eltern mit höherem Sozialstatus sind eher gesellschaftlich interessiert und sehen Partizipationsmöglichkeiten
Stammen die Jugendlichen jedoch aus Haushalten, in denen die Eltern einen höheren Bildungsabschluss haben und/oder die soziale Situation insgesamt gut ist, so ist meist auch ihr Verhältnis zu politischen und gesellschaftlich relevanten Themen sowie ihr Zugang zu Femsehinformation davon geprägt. Ihr Interesse bezieht sich nicht nur auf Themen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer eigenen Situation stehen, sondern ihr Horizont ist weiter. Sie sind offen für die Probleme anderer Menschen in der näheren und ferneren Umgebung. Sie nehmen Armut in der eigenen Stadt genauso wahr wie Hungerkatastrophen in der Sahelzone. Sie wissen, auch sie selbst als Normalbürgerinnen und -bürger können prinzipiell einen Beitrag dazu leisten, dass sich die Situation in Schwierigkeiten befindlicher Menschen bessert.

Der Weg dahin führt über die Politik. Um hier aktiv tätig zu werden, fehlt ihnen meist noch das nötige Alter. Einige von ihnen fangen zwar an, sich für konkrete Belange zu engagieren, ein kontinuierliches Engagement in einer Partei oder einem Verband, der sich mit gesellschaftlichen Sachverhalten beschäftigt, nehmen aber die wenigsten wahr. Haben sie sich aber doch dafür entschieden, so sind in der Regel auch die Eltern oder ältere Geschwister politisch aktiv. [...]

Chance oder Barriere Nummer 4: Die Peer-Group
Mit Beginn des Jugendalters gewinnt die Gleichaltrigengruppe für die Herausbildung von Einstellungen und Meinungen immer mehr an Bedeutung. Die Peer-Group übernimmt nun teilweise die Funktion, die vorher die Eltern innehatten.

Mädchen und Jungen, die ihre Freizeit mit Gleichaltrigen verbringen, die ein Interesse an Politik und Gesellschaft zeigen, und sich kontinuierlich oder punktuell engagieren, sind auch selbst interessiert und engagiert. Ein Vertreter dieser Gruppe ist ein 14-Jähriger, der Mitglied eines Schachclubs ist, und "der halbe Schachclub irgendwie, die sind alle bei den Jusos". Dort sieht er in näherer Zukunft auch sich selbst. Von seinen Freunden im Schachclub hat er gelernt zu diskutieren und sich aufgrund verschiedener Informationen sein eigenes Bild zu machen. Als Diskussionspartner dienen ihm auch ein Freund, der eine ganz andere politische Meinung vertritt als er, "der ist ziemlich so CDU-mäßig, sehr wirtschaftlicher Denker irgendwie", oder seine Eltern, deren "Einstellung [...] ist halt ein bisschen parteiisch", womit er meint, dass diese Informationen durch die persönliche Einstellung geprägt ist und deshalb relativiert werden muss.

Zu Femsehinformation haben diese Jugendlichen eine klare Haltung. Sie hat keine herausragende Bedeutung. Sie dient zur schnellen Überblicksinformation und, wie auch andere Medien, um sich zu bestimmten Themen Hintergründe anzueignen. Wichtiger aber sind der Austausch und die Diskussion in der Peer-Group. Information, die Boulevardmagazine und Talkshows bieten, ist zwar manchmal ganz lustig, aber "eigentlich völlig unwichtig". Das Urteil einer 17-Jährigen über Talkshows fällt härter aus. Sie ist der Meinung, dass dieses Genre nichts mit Information zu tun hat. Sie findet es "voll beschämend, wie sich die Menschen selber auf das niedrigste Niveau drücken ... die machen sich selber eigentlich lächerlich".

Dieser Gruppe von Heranwachsenden stehen jene Jugendlichen gegenüber, deren Peer-Group mit gesellschaftlichen Themen nichts am Hut hat. Zu diesen gehört zum Beispiel ein 16-jähriger Gymnasiast, der zwar nicht uninformiert darüber ist, was bezüglich Politik und Weltgeschehen gerade aktuell ist. Er hat sich auch schon einmal überlegt, an einer Demonstration teilzunehmen, dabei ging es um Schulpolitik, also etwas, "was nicht schlimm ist und was nichts zu bedeuten hat". Das hat er dann aber doch gelassen, da seine Freunde keine Lust dazu hatten. Ein anderes Beispiel ist eine Gleichaltrige, die die Realschule abgeschlossen hat und nun ein berufsvorbereitendes Jahr absolviert. Themen, die sie beschäftigen, sind "Missbrauch [...], Vergewaltigungen und so was, was eben momentan aktuell ist, Kriminalität allgemein". Darüber weiß sie Bescheid und darüber unterhält sie sich mit ihrer Peer-Group wie auch mit ihren Eltern.

Fragt man diese Jugendlichen, welche Fernsehsendungen sie zur Information heranziehen, so nennen sie meist Titel aus dem Infotainmentbereich - also genau die Sendungen, die Kriminalität und Schicksalsschläge in den Vordergrund stellen. [...]

Susanne Eggert: Fernsehen als Informationsmedium Jugendlicher: Präferenzen und Barrieren. Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung bei Zwölf- bis 17-Jährigen, in: Media Perspektiven 2/2001, http://www.ard-werbung.de/MediaPerspektiven/
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