"Das gesamte junge Amerika hat schulfrei, beschäftigt sich mit seinen Nintendo-Produkten und besetzt die Produktservice-Telefonleitungen." DOUGLAS COUPLAND »Microsklaven« (1996)
"Growing up digital": Aufwachsen im Netz-Zeitalter, so beschreibt der Amerikaner Don Tapscott die neue Netz-Generation, die er »Generation N« oder auch »Net Kids« nennt. Erstmals wächst eine Generation inmitten digitaler Medien auf. So wie das Fernsehen in den fünfziger bis achtziger Jahren ganze Generationen geprägt hat, so wird auch das digitale Zeitalter die Lebens-, Konsum- und Mediengewohnheiten nachwachsender Generationen verändern. Die Kinder des Zeitalters im Zeichen von @ können die Welt von ihrer Tastatur aus sehen, erleben und ändern. Aus passiven Zuschauern können Multimedia-Akteure werden. Manche Kinderzimmer gleichen heute schon modernen Schaltzentralen zwischen Walkman und TV, Stereoanlage und Videorecorder. Was passiert eigentlich, wenn der PC dauerhaft Einzug in das Kinderzimmer hält und Datennetze Kinder erreichen?
Psychosoziale Folgen: Entwicklungsdefizite und Sprachauffälligkeiten
Nach Angaben des Deutschen Bildungsrates von 1974 gab es in den siebziger Jahren
etwa zehn Prozent sprachauffällige Kinder zum Zeitpunkt des Schuleintritts.
Untersuchungen der Mainzer Klinik für Kommunikationsstörungen weisen jedoch
seit den achtziger Jahren auf eine dramatische Zunahme von Sprachauffälligkeiten
bei Kindern hin. So zeigte sich beispielsweise zwischen 1988 und 1992 in verschiedenen
Kindergärten der Stadt Mainz und Umgebung, dass mindestens 25 Prozent aller dreieinhalb-
bis vierjährigen deutschsprachigen Kinder Sprachentwicklungsstörungen aufweisen.
Dieser Befund wird inzwischen bundesweit von Kultusministerien und Sonderschulen
bestätigt. Allein in Nordrhein- Westfalen stellte man zwischen 1983 und 1995
eine Zunahme von 87 Prozent bei sprachauffälligen Kindern fest, die zu einem
deutlichen Anstieg der Schüler an Schulen für Sprachbehinderte rührte.
Als ein ursächlicher Faktor hierfür gilt der wachsende Einfluss der elektronischen
Medien auf die Kindesentwicklung. Sechzig Prozent der Zeit in der Familie wird
vor einem Fernsehgerät geschwiegen. Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren sehen
mehr als zwei Stunden (West: 122 - Ost: 144 Minuten) pro Tag fern. Die nachweisliche
Fortsetzung passiven Medienkonsums sind dann Solospiele mit dem PC oder dem
Gameboy.
Der Mediziner Patrick Zorowka weist überzeugend nach, dass sich aus dem Blickwinkel
der Sprachentwicklung das Fernsehen als Einbahnstraße erweist. Vom bloßen Zusehen
und Zuhören vollzieht sich gerade keine altersentsprechende Sprach- und Sprechentwicklung:
Ein Kind wird vor dem Bildschirm niemals aufgefordert, wirklich zu interagieren
und seine eigenen Phantasien auszuleben. Denn es gibt kein direkt agierendes
Gegenüber. Seine Aktionen und Bemühungen, zu kommunizieren, und seine Emotionen
bleiben ohne Antwort, was den qualitativen Bedeutungsunterschied etwa zum Kindertheater
deutlich macht. Eine Aneignung der kindlichen Umwelt mit allen Sinnen - aktiv
und mit voller Bewegung - kann es beim passiven Medienkonsum nicht geben. So
kommt es zwangsläufig zu Defiziten in der sprachlichen und kognitiven Entwicklung.
Denn: »Denken ist im wesentlichen versinnlichte Sprache« (ZOROWKA 1996, S. 947).
Die Folgen solcher Sprachentwickungsstörungen sind u. a.
- ein reduzierter Wortschatz,
- Probleme bei der Anwendung grammatischer Regeln sowie
- Schwierigkeiten beim Verstehen und Formulieren von Sätzen.
Beeinträchtigung der kommunikativen Kompetenz
Wie die Befragung des Allensbacher Instituts bei 900 Lehrern für Sozialkunde,
Wirtschaft und Politik nachweist, sind 81 Prozent der befragten Lehrerschaft
davon überzeugt, dass die heutige Schülergeneration am meisten von
den Medien geprägt ist (Allensbacher Archiv 1996). Die Folgen sind Konzentrationsschwäche,
Verhaltensstörungen und zunehmende Aggressivität. Für zwei von
fünf Lehrern stellt sich Gewalt als ein hautnah erlebtes Problem dar. Ein
Gefühl von Ohnmacht macht sich breit. 60 Prozent der Lehrer halten den
Einfluss der Medien auf ihre Schüler für "sehr groß"; an
den Einfluss der Eltern glauben lediglich 17 Prozent und sich selbst schreiben
nur noch drei Prozent der Lehrer einen großen Einfluss zu. Da Familie und familiäre
Bindungen zunehmend an Bedeutung verlieren und sich die Lehrer die Vermittlung
von Wertvorstellungen nicht mehr zutrauen (86 Prozent würden es gerne tun,
aber nur 21 Prozent haben den Eindruck, dass ihnen dies tatsächlich auch
gelingt), ist vorhersehbar, dass Schule und Lehrer vor dem Informations- und
Unterhaltungsangebot der Medien kapitulieren. (...)
Hyperaktivität und Konzentrationsmangel
Was Wissenschart und Forschung theoretisch an Erkenntnissen zutage fördern,
wird inzwischen durch die Wirklichkeit bestätigt. Nach Untersuchungen dominieren
in den Schulen zunehmend nervöse kleine Egoisten, die aggressiv reagieren, wenn
sie aufgefordert werden, sich mehr Mühe zu geben. Sie verhalten sich so, als
sei ihr Zentralnervensystem an das Vorabendprogramm des Fernsehens angeschlossen:
Ihr schulisches Verhalten ist ein Reflex auf schnelle Schnitte à la Dallas,
Denver und MTV. Sie sind nervös, können sich weniger konzentrieren, bedürfen
immer neuer Reize, Stimuli und Sensationen, können kaum noch mit sich allein
sein, behalten weniger, strengen sich selten an - kurz: Das Konstante ihrer
Persönlichkeit ist die Flüchtigkeit.
Wir haben es in Zukunft mit einer reizüberfluteten Generation zu tun, die deutlich
aggressiver ist als ihre Vorläufer. Und wie die Psychiatrische Universitätsklinik
in Freiburg nachwies, haben 23 Prozent der befragten Kinder im Alter zwischen
sechs und zehn Jahren als Folge chronischer Stressbelastung unter Schlafstörungen
zu leiden. Sie haben zunehmend Schwierigkeiten, ohne fremde Hilfe zur Ruhe zu
kommen. Dabei besteht ein enger Zusammenhang zwischen Hyperaktivität und chronischem
Schlafmangel. Die betroffenen Kinder sind rastlos, impulsiv und leicht ablenkbar.
Eine Hauptursache wird in der immer stärkeren Verplanung gesehen. Manche Kinder
haben einen privaten Terminkalender wie Manager im Beruf. Infolgedessen konsumieren
sie mehr ihre verplante Zeit, während die Entwicklung von Phantasie und Eigeninitiative
zu verkümmern droht. Viele Kinder können nur noch kurze Geschichten erzählen,
in denen sich ein Highlight an das andere reiht - genauso wie im Fernsehen bei
Werbespots oder Musikkanälen.
Wie Fölling-Albers beispielsweise in ihrer Untersuchung über die »Schulkinder
heute« nachdrücklich belegt, klagen 87 Prozent der befragten Lehrerschaft über
wachsende Konzentrationsschwäche und vermehrte Unruhe und Nervosität der Kinder.
Im gleichen Maße, wie die Ausdauerfähigkeit der Kinder sinkt, nimmt ihre Ablenkungsbereitschaft
zu. »Vorlese«-Situationen, wie sie früher von Kindern geradezu herbeigesehnt
wurden, werden mittlerweile zur Geduldsprobe für Lehrer: Selbst bei spannenden
Geschichten ist nur noch ein kleiner Teil der Kinder in der Lage, sich auf das
Zuhören zu beschränken. Bereits mitten im Text verlieren viele Kinder das Interesse
daran, die Geschichte überhaupt zu Ende zu hören. Das Nicht-zuhören-Können,
heute schon im Kindesalter nachweisbar, kann in Zukunft zur größten sozialen
Herausforderung für die zwischenmenschliche Kommunikation werden.
Daraus folgt: Motivations- und Animationsfähigkeiten sowie die Kompetenz zu
Methodenwechsel und variantenreichen Unterrichtsformen werden dann zum pädagogischen
Repertoire jedes Lehrers bzw. zum Grundbestandteil jeder Lehreraus- und -fortbildung
gehören müssen.
Erziehung zur Medienkompetenz: Kein Freibrief für Kinderkanäle
Sich fortschrittlich gebende Medienpädagogen plädieren für eine Entdramatisierung
der öffentlichen Mediendiskussion mit der Begründung: Kinder seien medienkompetenter,
als es die Erwachsenen oft glauben. Und: In den letzten fünf Jahren habe sich
zwar die Zahl der ausgestrahlten Kindersendungen mehr als verdreifacht, was
aber nicht zu mehr Fernsehkonsum geführt habe. Eine Art Freibrief für Kinderkanäle
und grenzenloses Kinder TV? Schon werden die ersten Seifenopern für Babys und
Kleinkinder produziert: Die »Teletubbys« (ARD-/ZDF-Vormittagsprogramm) haben
in über 30 Ländern die Zweijährigen als neue Zuschauergruppe entdeckt. Die Ergebnisse
der aktuellen Medienforschung sprechen eine ganz andere Sprache: Drei- bis Fünfjährige
sehen heute mehr fern als früher. Nach den Erhebungen der ZDF-/GfK-Medienforschung
hat seit Einführung des kommerziellen Fernsehens in Deutschland Mitte der achtziger
Jahre der TV-Konsum bei den jüngsten Zuschauern mehr zugenommen als bei den
Erwachsenen. Die durchschnittliche tägliche Sehdauer der Drei- bis Fünfjährigen
ist in den neunziger Jahren um 25 Minuten von 55 auf fast 80 Minuten gestiegen.
Aus der Medienforschung (ZDF-/GfK-Medienforschung 1997) geht weiter hervor:
- 99 Prozent der deutschen Haushalte haben Fernsehen.
- Fast 9 Millionen Kinder im Alter von 3 bis 13 Jahren machen davon Gebrauch.
- Jeder Haushalt kann durchschnittlich 33 TV-Sender empfangen.
- Fast alle Sender bieten ein Programm rund um die Uhr an.
- Die häufigste TV-Nutzung der Kinder findet in der Zeit zwischen 18 und 21 Uhr (und nicht etwa nachmittags) statt.
- Kinder sehen mehr private als öffentlich-rechtliche TV-Sender. Mädchen bevorzugen Daily Soaps (wie z. B. »Gute Zeiten - schlechte Zeiten«), Jungen präferieren Actionfilme (wie z.B. Karate Tiger«).
Für die Zukunft stellen sich eine Reihe von Fragen:
- Werden im Jahr 2000 dreijährige Kinder im Durchschnitt 1,5 Stunden am Tag vor dem Bildschirm zubringen?
- Wird der Kinderkanal zum Babysitter?
- Und bleiben Spielen, Toben, Malen, Lesen und Geschichtenerzählen auf der Strecke?
Weil z. B. der Kinderkanal gewalt- und werbefrei konzipiert ist, glauben viele Eltern, dass der Fernsehkonsum von Kindern nun pädagogisch legitimiert oder gar pädagogisch wertvoll sei.
Neue Maßstäbe für Medienkonsum
Was passiert, wenn nichts passiert? Es kann davon ausgegangen werden, dass Kinder
und Jugendliche in Zukunft als Folge übermäßigen Medienkonsums verstärkt über
Nervosität, Kopfschmerzen und Schlafstörungen klagen. Bei den 14- bis 29jährigen
lassen sich solche Symptome bereits empirisch nachweisen. Nach »dauerndem Fernsehen
an Feierabend und Wochenende« leiden 54 Prozent von ihnen unter Kopfschmerzen.
Innere Unruhe breitet sich aus. Jeder dritte (34 Prozent) klagt über Nervosität.
Jeder achte wird aggressiv (13 Prozent) und lebt seine Wut einfach aus. Die
Einzelsymptome reichen von Unwohlsein und Übelkeit (6 Prozent) über Appetitlosigkeit
(2 Prozent) bis hin zu Schlaflosigkeit (8 Prozent). Wenn die Hektik des Tages
auch am Abend durch Dauer-TV ihre Fortsetzung findet, kann der Medienstress explosiv
werden. Die ständige Reizsteigerung fordert geradezu ihre Aggressivität heraus.
Das Ziel, Kinder und Jugendliche zu einer bewussten und kritischen Nutzung der Medien zu befähigen, ist schnell formuliert und wichtiger denn je Unbeantwortet geblieben sind jedoch bisher weitgehend zwei zentrale Fragen der Medienerziehung bzw. der Erziehung zur Medienkompetenz:
- Welche Maßstäbe für eine altersgerechte Auswahl des Medienangebots gibt es, wer entwickelt sie und wer setzt sie durch?
- Wer denkt ernsthaft und systematisch über Alternativen zum einseitig passiven Medienkonsum nach, bietet also ebenso gleichwertige wie attraktive Alternativen an?
Dies sind auch die Schlüsselfragen einer zukunftsorientierten Medienpädagogik. Die massenhafte Diskussion um den Einfluss problematischer Medien-Inhalte« lenkt nicht zur eigentlichen Problemlösung hin, sondern eher davon ab. Es mangelt bisher an Maßstäben für Medienkonsum. In Japan hat man beispielsweise in den Kindergärten damit begonnen, die Kinder zu einer doppelten Medienkompetenz zu erziehen: Kindergärtnerinnen üben mit den Kindern sowohl das Zuschauen wie z. B. das gemeinsame Betrachten von Fernsehsendungen als auch das Nichtzuschauen, das Auswählen und Weglassen von TV-Sendungen.
Attraktive Alternativen zum Medienkonsum
Wir brauchen in Zukunft geradezu kindgerechte Entspannungsübungen gegen Informations-Flut
und Medien-Stress. Wegweisende Arbeit hierzu leistet beispielsweise das zur Vorsorge-
und Rehaeinrichtung »Köhlbrand-Kuren an der Nordsee« gehörende Lenzheim auf
der nordfriesischen Insel Amrum. Das von der Norddeutschen Gesellschaft für
Diakonie in Rendsburg getragene Lenzheim bietet Entspannungsübungen für hektische
Kids an: Kinder kuscheln gegen den Stress, sie liegen aufweichen Matten, atmen
entspannt und ruhig, umgeben von Teddybären und anderen Kuscheltieren - danach
ist Toben im Freien angesagt. Der rhythmische Wechsel von Anspannung und Entspannung,
von Lärm und Stille trägt dazu bei, dass die Kinder nicht aus der Balance geraten
und ihr inneres Gleichgewicht wiederfinden.