M 02.09 Persönlichkeitsentwicklung durch Talkshows?
 


Das Fallbeispiel Julia

Julia, 12 Jahre, ist erklärter Talkshow-Fan. Als favorisierte Talkshow bezeichnet sie "Sonja". An einigen Tagen, erzählt sie, baue sie sich ein 'Paradiesbett' mit sämtlichen Kuscheltieren und ihrem Meerschweinchen; von da aus schaue sie dann die Talkshow. Dabei idealisiert Julia die Talkshow-Moderatorin in extremer Weise; sie erscheint ihr nicht nur als ehrlich, sondern geradezu als die weise Frau. So kann sich Julia Sonja nicht nur als ältere Schwester vorstellen, sie phantasiert weiter, dass die Moderatorin auch eine gute Mutter für sie sein könnte. Das zentrale Thema in der Daily Talk ist für Julia die "Familie". So wünscht sie sich zu diesem Thema eine eigene Talkshow, wobei bereits der Titel dieses gross ankündigt und auch ihr eigener Name "ganz gross" erscheinen soll. Als Gäste möchte Julia ihre Familie, vor allem ihre Mutter und ihren Bruder, einladen; die Mutter solle dann Gäste und Menschen im Publikum fragen: "Warum die das machen". Im weiteren Gespräch wird deutlich, dass Julia damit Trennung und Scheidung meint. In diesem Zusammenhang äußert sie, dass ihr Herz Zacken habe und weh tue.
Diese Äußerungen lassen sich zuordnen, wirft man einen Blick auf Julias lebensweltliche Bedingungen: sie lebt in belasteten, unübersichtlichen familiären Verhältnissen. Die Trennung ihrer Eltern, für die sie sich die Schuld gibt, überfordert sie ebenso wie die neue häusliche Situation. So bekundet Julia auf der einen Seite, ihre Mutter zu lieben, an anderer Stelle lässt sie unverhohlen ihrem Hass freien Lauf und zeigt ihre Verachtung für den unsteten Lebenswandel der Mutter (diese betrügt den neuen Lebensgefährten). Julias familiärer Hintergrund lässt sich nur schwer erschließen; sie wohnt mit ihrer Mutter (die in einem Orthopädiefachgeschäft als Verkäuferin arbeitet), deren Freund und ihrem Bruder zusammen; es ist auch von einer Stiefschwester (die Tochter des Freundes der Mutter) die Rede, die jedoch nicht in der gemeinsamen Wohnung lebt. Julias Vater lebt mit seiner neuen Freundin (die eine 18-jährige Tochter hat; Julia: "Ich habe eine richtige Stieffamilie") und der Großmutter in einem anderen Ort.

Julias Verhältnis zu ihrer Mutter ist geprägt von tiefer Unsicherheit und großem Misstrauen; an einer Stelle des Interviews äußert sie, ihre Mutter zu hassen, an anderen betont sie dann, sie gern zu haben. Mit ihrem jüngeren Bruder versteht sich Julia ebenfalls kaum. Während des Interviews äußert sie eindringlich den Wunsch, zu ihrem Vater und dessen neuer Freundin und der Großmutter ziehen zu wollen; sie idealisiert deren Lebensbedingungen und widerspricht sich dabei vehement: Einmal lebt der Vater in einem Luxushaus mit acht Zimmern; an anderer Stelle ist lediglich von einem Raum die Rede. In diesem Zusammenhang spricht Julia von einem Onkel und einer Tante, die mit der Familie des Vaters zusammenwohnen. Julia bedauert, dass ihre Mutter ihr verwehre, zum Vater zu ziehen. Julia stilisiert Sonja und mit Einschränkungen auch Arabella zu Problemlöserinnen. Sonja wird geradezu zur guten Fee und Wunschmutter. Julia nutzt die Talkshows wie "Sonja" zur Flucht aus ihrer Realität, stilisiert sie zur Gegenwelt zu ihrem stark problembelasteten Alltag. Besonders "Sonja" erscheint ihr als heile Welt, als der Ort, an dem auch Kinder - anders als sie es in ihrem Alltag erfährt - zu Wort kommen, ihre Wünsche und Probleme äußern können.

Julia erzählt im Interview, Sonja habe in einer Sendung ein Kind aus dem Publikum, das sich gemeldet hatte, zu Wort kommen lassen. Auch Arabella erfährt Lob: "Ja, die nimmt auch Kinder dran und nimmt auch Kinder in die Show rein". Julia schätzt es, "dass Kinder dort ihre Probleme loswerden können: Probleme in der Schule, Probleme zu Hause". Für Julia, die in außergewöhnlich belastenden familiären Bedingungen aufwächst und in der Phase der Präpubertät die liebevolle Unterstützung ihrer Eltern, vor allem ihrer Mutter vermisst, gewinnt .die Moderatorin Sonja eine grosse Bedeutung in ihrem Alltag, in der Auseinandersetzung mit sich selbst und ihrer Familie. Sonja wird geradezu zum Anker in Julias Identitätsgenese; sie wird für die Zwölfjährige zur 'Moderatorin' ihres nicht ausbalancierten Identitätsprojekts.

Damit stellt sich die Frage, ob die Handlungsweise - mit Hilfe einer Talkshow-Moderatorin das Selbstkonzept im belasteten Alltag zu bearbeiten - Julias Entwicklung befördern hilft und vielleicht gar als alltagskompetent gewertet werden muss? Oder: erschwert bzw. verhindert sie vor dem Hintergrund der Verschränkung des klischeegeprägten Talkshow-Angebots mit den lebensweltlichen Bedingungen des Mädchens eine erfolgreiche Arbeit an einem möglichst stabilen Selbstbild. Schließlich könnte die täglich erneuerte para-soziale Beziehung zur Moderatorin - ohne Korrekturmöglichkeiten einer Face-to-Face-Interaktion - zu weiteren Fluchtbewegungen Julias aus der nicht bewältigten Identitätsarbeit rühren. Dies gilt um so mehr, nimmt man die Bedenken ernst, die Wilhelm Heitmeyer im Zusammenhang mit Individualisierungs- und Freisetzungsprozessen geäußert hat. Er gibt zu bedenken, dass "nur die Starken" diesen Prozessen gewachsen sind.6 Junge Menschen wie Julia, die vor dem Hintergrund einer von Schwierigkeiten belasteten Verschränkung von Selbstsuche, Talkshow-Rezeption und lebensweltlichen Bedingungen kaum in der Lage sein dürften, ihre Biographie selbstbestimmt und kompetent fortzuschreiben, könnten in die Gefahr geraten, mehr und mehr in von Medien erzeugten Traumwelten - in diesem Fall Julias Wunschsicht auf die Moderatorin Sonja - Zuflucht zu suchen, in denen niemand zu unbedeutend scheint, um nicht auf eine ihm gemäße Weise ernst genommen zu werden.

Medien als Symbolmaterial für die Identitätskonstruktion

Medien gehören zu den wichtigsten 'Dingen', mit denen Kinder und Jugendliche in Interaktion und Kommunikation stehen. Sie bieten sich als Symbolmaterial für die Selbstfindungsprozesse junger Menschen geradezu an (Neumann 1988, Paus-Haase 1998).
Medien helfen, durch ihre zumeist klare, stereotyp-vereinfachende Darstellungsweise unterstützt, Alltagserfahrungen zu bewältigen, etwa im Wiedererkennen von eigenen Erfahrungen und Lebenssituationen, die dann auf eine soweit wie möglich kompetente Weise bearbeitet werden können. Aktuelle Untersuchungen (siehe Barthelmes/ Sander 1997) zeigen, dass insbesondere die Medienerfahrungen der Jugendlichen eine wichtige Rolle spielen für

  • die Arbeit am Selbstbild,
  • die Herausbildung von Geschmackskulturen,
  • die Ablöseprozesse der Jugendlichen von den Eltern,
  • die sozialen Beziehungen in den Peer-Groups.

Ein Spielfilm, eine Serie oder auch die Daily Talks können einen Widerspiegelungseffekt bewirken, durch den "eine Reflexion der eigenen Lebensführung angeregt wird" (Barthelmes/ Sander 1997, S.45). Medien und ihre Protagonisten können zur symbolischen Bühne werden, auf denen Heranwachsende "probehandeln", d.h. neue Handlungsmuster und -Strategien gedanklich und emotional ausprobieren können, ohne ernsthafte Konsequenzen fürchten zu müssen. Talkshows etwa bieten Lebensentwürfe an, in denen Fragen verhandelt werden, wie sie sich Jugendlichen heute in besonderem Maße stellen; sie erzählen gewissermaßen Geschichten darüber, wie Leben und Zusammenleben aussehen kann, wie sich der Einzelne im Gefüge seiner familiären oder auch beruflichen Verhältnisse, in privaten oder öffentlichen Lebenskontexteneinbringen und behaupten kann (Paus-Haase/ Hasebrink/ Mattusch/ - Keuneke/ Krotz 1999).

Im Prozess des Heranwachsens, in der Interaktion mit Eltern, Geschwistern, Freunden, Erziehern und Lehrern entwickelt sich in wachsender Selbstwahrnehmung, -bewertung und -reflexion der individuellen Handlungskompetenzen und der faktischen eigenen Verhaltensweisen das Selbstbild. Es stellt sich als Gesamtheit der Vorstellungen von der eigenen Person und Einstellungen zur eigenen Person dar. Kognitive, emotionale und motivational-dispositionale Komponenten fließen darin ein (vgl. Hurrelmann 1990, S. 169). Ein Individuum, das Ich-Identität herzustellen vermag, ist danach in der Lage, seine Identität in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen Herausforderungen durch andere, durch seine Umwelt, zu wahren bzw. jeweils neu zu bearbeiten, zu konstruieren, um sich als 'Ich' mit allen Aspekten seiner Persönlichkeit, in seinem persönlichen 'Identitätsprojekt' gestaltend in den Alltag einbringen zu können.4 Die Konkretisierung und Bewältigung dieser Aufgaben steht also in einem engen Zusammenhang mit den Herausforderungen durch die Umwelt; junge Menschen benötigen dabei mediale Vorbilder und Orientierungsmöglichkeiten. Am Beispiel des Umgangs eines Mädchens mit der Talkshow "Sonja" soll gezeigt werden, wie sich die Arbeit am Selbstbild in der Verschränkung von Identitätsentwicklung und Medienrezeption vor dem Hintergrund der spezifischen lebensweltlichen Bedingungen vollzieht.

Aus: Ingrid Paus-Haase: Persönlichkeitsentwicklung bei Jugendlichen am Beispiel von Talkshows?, in: medien + erziehung 6/1999, S. 358 - 362.
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