M 02.10 Funktionen von Medien im Prozess des Heranwachsens
 


Medienwelten und Medienerfahrungen gehören heute zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen. Den Umgang mit den Medien lernen sie vor allem in ihren Familien. Ihre häuslichen Medienerfahrungen tragen sie dann in die Gleichaltrigen-Gruppen (Peer-Groups) hinein. Dort werden sie zum Stoff für Gespräche und bestimmen das kulturelle Verhalten mit. Der gelebte Medienumgang in Familien wurde bisher jedoch kaum empirisch erforscht. Um diese Forschungslücke zu füllen, begann das Deutsche Jugendinstitut vor zehn Jahren mit einer Längsschnittsuntersuchung zu den Medienerfahrungen von Jugendlichen in Familie und Peer-Group.

Der Zusammenhang von Lebensthemen und Medienthemen
Neben der Musik, die bei den Jugendlichen durchweg die wichtigste Rolle spielt ("Musik spendet Trost, verstärkt Stimmungen und Gefühle"), setzen sich die Jugendlichen vor allem intensiv mit Spielfilmen auseinander. In den Interviews wurde immer nach dem aktuellen persönlichen Lieblingsfilm gefragt, wobei die Jugendlichen den Inhalt nacherzählen sollten. Wer etwas über einen Medieninhalt erzählt, der erzählt meist auch eine Geschichte aus seinem eigenen Leben, denn diese Nacherzählungen über Mediengeschichten enthalten zugleich eine Fülle von eigenen Interpretationen, Gedanken und Gefühlen. Dabei fiel auf, dass die Jugendlichen Woche für Woche und Jahr für Jahr eine Menge an Spielfilmen sehen, doch als persönliche Lieblingsfilme immer solche Spielfilme nennen, die mit ihren Entwicklungsthemen und Lebenssituationen (symbolisch und unmittelbar) zu tun hatten.

Liebesfilme
Wie die Auswahl der Lieblingsfilme der befragten Jugendlichen zeigt, suchten sie vor allem nach Frauen- und Männerbildern sowie nach Geschichten, in denen um die Verlässlichkeit in Beziehungen gerungen wird. Deutlich wird hier der Zusammenhang zwischen den Medienthemen und -Vorlieben und den persönlichen Themen der Jugendlichen (vgl. Tabelle l). So waren in den befragten Familien die Väter aus beruflichen Gründen häufig abwesend, ein Drittel der Mütter war allein erziehend, und es gab auch Adaptiv- oder Stiefeltern. Offenbar bewirkte die Abwesenheit der Väter sowie Erfahrungen mit Trennung und/oder Scheidung der Eltern einen starken Wunsch nach Nähe und emotionaler Sicherheit. Der abwesende Vater ist aber umso präsenter in den Bildern, die die Jugendlichen sich machen. Was unbekannt ist, wie beispielsweise die männliche Art und Weise mit Menschen, Situationen und Dingen umzugehen, schürt Zweifel, macht Angst, und aus dieser Angst heraus suchen die Jugendlichen in den Filmen und Serien nach den verschiedenen Bildern des Männlichen: Von "Rambo", "Terminator", "Indiana Jones" bis hin zu "Schindlers Liste", "Der mit dem Wolf tanzt "oder "Star Wars".

Die befragten Mädchen setzen sich beispielsweise mit der Frage auseinander, welches Bild sie von sich selbst als Frau haben und welche Eigenschaften und Merkmale sie bei ihren Lieblingsstars schätzen und bewundern, aber auch, welches Verhalten und welches Aussehen sie an den weiblichen Stars überhaupt nicht mögen. Dabei stehen bei ihnen Gefühle des Mangels und des Unfertigen im Kampf mit Gefühlen der Euphorie und des Übermuts. Sie fragen, warum diese Stars so anziehend sind. Dabei geht es nicht um kritiklose Nachahmung der Frauenbilder, sondern um die Suche nach dem eigenen Geschmack und der eigenen Person bzw. Persönlichkeit. Einige der befragten Mädchen sehen beispielsweise bis zu zwanzig Mal Filme wie "Dirty Dancing" "Pretty Woman" "Grüne Tomaten" oder "Der Feind in meinem Bett" und setzen sich dabei mit den unterschiedlichen Frauenbildern auseinander, indem sie immer wieder ihre Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Einschätzungen ausloten. Mädchen, die sich ihren Ängsten vor der Zukunft sowie dem Schrecken vor Horror und Gewalt stellen, wählen Filme wie "Das Schweigen der Lämmer", "Friedhof der Kuscheltiere", "From Dusk till Dawn" oder "Der mit dem Wolf tanzt".

Abbilder der eigenen Wirklichkeit
Wenn Jugendliche Medieninhalte auf ihr eigenes Leben beziehen können, dann kommt es zu einem intensiven Medienerleben. Medieninhalte werden als Abbilder der eigenen Wirklichkeit (wieder-)erkannt. Die Jugendlichen sehen ihre persönlichen Themen und Lebenserfahrungen in den Mediengeschichten widergespiegelt.

Für die Suche nach einem Spiegel für ihre Themen in den Medien gibt es drei Phasen. Dieser Prozess beginnt mit 13 bis 14 Jahren, wenn sich die jeweils persönlichen Themen herausbilden (Abschied von der Kindheit; Angst vor dem Unbekannten; Abgrenzung gegenüber den Eltern; Suche nach dem unbekannten bzw. abwesenden Vater; Abgrenzung gegenüber der überfürsorglichen Mutter; Rebellion gegen Autoritäten).
Mit 15 oder 16 Jahren schält sich dann das persönliche Thema stärker heraus; dieses Thema wird die Jugendlichen jeweils noch lange begleiten und bezieht sich vor allem auf folgende Aspekte: Die Erfahrungen mit sich selbst; das Erkennen der eigenen Stärken und Schwächen; die Erlebnisse mit den Freundinnen und Freunden sowie mit der (ersten) Liebe.
Mit etwa 19 Jahren werden dann die persönlichen Themen deutlich und bewusst. Es war überraschend, dass den befragten Jugendlichen auch nach fünf Jahren noch bestimmte Lieblingsmedien aus ihrer Zeit als 13- oder 14-Jährige wichtig waren. Die Themen und Probleme, die dort angesprochen wurden, besitzen für sie immer noch eine verblüffende Aktualität. In ihrem Rückblick auf die Zeit der Adoleszenz stellen die jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen fest, dass ihnen die Medien und ihre Inhalte vor allem als ein Echo sowie als ein "Spiegel der Selbstvergewisserung" dienten. Gerade für ihre Suche nach dem Vater und ihre Suche nach den eigenen Wurzeln waren die Medien hilfreich. Im Spiegel der Mediengeschichten erkennen die Jugendlichen sich selbst sowie ihre Themen wieder.

Medieninhalte als sozialer Nutzen
Die Jugendlichen verwenden die Medien vor allem auch dazu, um mit ihrer Umwelt in Kontakt zu treten. Medien bilden einen Rahmen für gemeinsame Tätigkeiten sowohl in der Familie als auch in den Gleichaltrigen-Gruppen (gemeinsames Fernsehen, Musikhören, Video- und Telespielen, gemeinsamer Besuch von Kinos, Konzerten, Büchereien u.a.). Medieninhalte sind Thema von Gesprächen mit Freundinnen und Freunden, mit Geschwistern und Eltern. Entgegen der geläufigen Auffassung, dass beispielsweise das Fernsehen die Familienmitglieder voneinander isoliert, wird in den von uns befragten Familien meist sehr viel über das Fernsehen und andere Medien geredet. Dieses gemeinsame Reden und Sich-Austauschen findet etwa bis zum 15. Lebensjahr statt. Ab dem 16. Lebensjahr nimmt dies wieder ab, wie ja auch die Fernsehnutzung der Jugendlichen überhaupt. Sie wollen sich mehr mit den Freundesgruppen treffen sowie sich mehr von den Geschmacksvorlieben und Alltagsgewohnheiten der Eltern absetzen. Ferner werden - wie erwähnt - in diesem Alter die Themen Schute, Ausbildung, Studium, Beruf und die positiven und negativen Erfahrungen mit ihren Freundschaften wichtiger. Das Reden und Sich-Austauschen über Medien insgesamt ist jedoch ein selbstverständlicher Bestandteil der alltäglichen Kommunikation geworden und bekam in den Familien sowie in den Gleichaltrigen-Gruppen eine besondere Qualität. Denn das Sprechen über Serien oder Spielfilme erlaubt es den Jugendlichen, die Mediengeschichten abzuwandeln, indem sie beim Erzählen ihre eigene Erfahrungen und Gefühle mit einbeziehen und so nicht gleich mit ihrem eigenen Thema oder ihrer eigenen Meinung herausrücken müssen.

In den Familien und vor allem in den Gleichaltrigen-Gruppen benutzen die Jugendlichen das Reden und Sich-Austauschen sozusagen als "Ouvertüren", um sich selbst in ein Gespräch einzubringen und einzumischen. Dies ermöglicht ihnen, dabei die eigenen Wünsche, Ängste und Probleme erst einmal hinter dem Berg zu halten, um auszuprobieren, wie das (eigene) Thema (als Medienthema getarnt) überhaupt aufgenommen wird. Dazu gehört auch die Provokation, um sich selbst und die anderen zu testen. Gelingt ihnen dies, dann können die Jugendlichen leichter von sich und über sich reden.

Die Eltern der befragten Jugendlichen ihrerseits berichten, dass ihre Töchter und Söhne ihnen oft ausführlich von Spielfilmen oder Serien erzählen, sodass für sie eigentlich deutlich auf der Hand liege, was ihr Kind innerlich beschäftige. So sprächen die Jugendlichen ihre Eltern nach dem gemeinsamen Anschauen von Beziehungsfilmen oft auf die Eltem-Paarbeziehung an ("Lasst ihr euch auch scheiden?", "Liebt ihr euch noch?", "Werdet ihr auch zusammen alt?"). Da die Medien kaum ein Thema tabuisieren, wird in den Familien auch zunehmend über heikle Themen wie Aids, Drogen, Sexualität, Trennung/Scheidung der Eltern und Ähnliches geredet, Themen, die von den Eltern oft nur zögerlich angesprochen werden. Die Jugendlichen und ihre Eltern lernen sich übers Fernsehen auch gegenseitig kennen (Kommentare abgeben, Streitgespräche führen, Emotionen kennen lernen: "Warum regt sich die Mutter bei dieser Szene so auf?"). Die Jugendlichen fragen ihre Eltern nach ihrer Meinung; sie wollen wissen, was ihnen gefällt, sie wollen herausfinden, was sie selbst mögen und wie sie dies ihren Eltern erklären können.
Manchmal gibt es dabei auch Überraschungen: "Was, das findest Du gut?" fragt ein 14-jähriger Sohn, als seine Mutter gerade einen alten Schlager mitsingt. Oder eine Mutter: "Wenn 'Sissi' im Fernsehen kommt, dann sag ich zu ihr: Komm, das musst du dir anschauen, das ist die Jugend deiner Mutter". Medieninhalte werden somit Fenster zur Medienbiographie der Eltern, öffnen Kindern den Blick für die Jugendzeit ihrer Eltern. Das Reden über die Medien und ihre Inhalte erleichtert so in den befragten Familien die Verständigung zwischen den Generationen und Geschlechtern.

Aus: Jürgen Barthelmes: Funktionen von Medien im Prozess des Heranwachsens. Ergebnisse einer Längsschnittuntersuchung bei 13- bis 20-Jährigen, in: MediaPerspektiven 2/2001, S. 84 - 89.
http://www.ard-werbung.de/MediaPerspektiven
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