Medienwelten und Medienerfahrungen gehören heute zur Lebenswirklichkeit von Jugendlichen. Den Umgang mit den Medien lernen sie vor allem in ihren Familien. Ihre häuslichen Medienerfahrungen tragen sie dann in die Gleichaltrigen-Gruppen (Peer-Groups) hinein. Dort werden sie zum Stoff für Gespräche und bestimmen das kulturelle Verhalten mit. Der gelebte Medienumgang in Familien wurde bisher jedoch kaum empirisch erforscht. Um diese Forschungslücke zu füllen, begann das Deutsche Jugendinstitut vor zehn Jahren mit einer Längsschnittsuntersuchung zu den Medienerfahrungen von Jugendlichen in Familie und Peer-Group.
Der Zusammenhang von Lebensthemen und Medienthemen
Neben der Musik, die bei den Jugendlichen durchweg die wichtigste Rolle spielt
("Musik spendet Trost, verstärkt Stimmungen und Gefühle"), setzen sich die Jugendlichen
vor allem intensiv mit Spielfilmen auseinander. In den Interviews wurde immer
nach dem aktuellen persönlichen Lieblingsfilm gefragt, wobei die Jugendlichen
den Inhalt nacherzählen sollten. Wer etwas über einen Medieninhalt erzählt,
der erzählt meist auch eine Geschichte aus seinem eigenen Leben, denn diese
Nacherzählungen über Mediengeschichten enthalten zugleich eine Fülle von eigenen
Interpretationen, Gedanken und Gefühlen. Dabei fiel auf, dass die Jugendlichen
Woche für Woche und Jahr für Jahr eine Menge an Spielfilmen sehen, doch als
persönliche Lieblingsfilme immer solche Spielfilme nennen, die mit ihren Entwicklungsthemen
und Lebenssituationen (symbolisch und unmittelbar) zu tun hatten.
Liebesfilme
Wie die Auswahl der Lieblingsfilme der befragten Jugendlichen zeigt, suchten
sie vor allem nach Frauen- und Männerbildern sowie nach Geschichten, in denen
um die Verlässlichkeit in Beziehungen gerungen wird. Deutlich wird hier der
Zusammenhang zwischen den Medienthemen und -Vorlieben und den persönlichen Themen
der Jugendlichen (vgl. Tabelle l). So waren in den befragten Familien die Väter
aus beruflichen Gründen häufig abwesend, ein Drittel der Mütter war allein erziehend,
und es gab auch Adaptiv- oder Stiefeltern. Offenbar bewirkte die Abwesenheit
der Väter sowie Erfahrungen mit Trennung und/oder Scheidung der Eltern einen
starken Wunsch nach Nähe und emotionaler Sicherheit. Der abwesende Vater ist
aber umso präsenter in den Bildern, die die Jugendlichen sich machen. Was unbekannt
ist, wie beispielsweise die männliche Art und Weise mit Menschen, Situationen
und Dingen umzugehen, schürt Zweifel, macht Angst, und aus dieser Angst heraus
suchen die Jugendlichen in den Filmen und Serien nach den verschiedenen Bildern
des Männlichen: Von "Rambo", "Terminator", "Indiana Jones" bis hin zu "Schindlers
Liste", "Der mit dem Wolf tanzt "oder "Star Wars".
Die befragten Mädchen setzen sich beispielsweise mit der Frage auseinander, welches Bild sie von sich selbst als Frau haben und welche Eigenschaften und Merkmale sie bei ihren Lieblingsstars schätzen und bewundern, aber auch, welches Verhalten und welches Aussehen sie an den weiblichen Stars überhaupt nicht mögen. Dabei stehen bei ihnen Gefühle des Mangels und des Unfertigen im Kampf mit Gefühlen der Euphorie und des Übermuts. Sie fragen, warum diese Stars so anziehend sind. Dabei geht es nicht um kritiklose Nachahmung der Frauenbilder, sondern um die Suche nach dem eigenen Geschmack und der eigenen Person bzw. Persönlichkeit. Einige der befragten Mädchen sehen beispielsweise bis zu zwanzig Mal Filme wie "Dirty Dancing" "Pretty Woman" "Grüne Tomaten" oder "Der Feind in meinem Bett" und setzen sich dabei mit den unterschiedlichen Frauenbildern auseinander, indem sie immer wieder ihre Gedanken, Empfindungen, Gefühle und Einschätzungen ausloten. Mädchen, die sich ihren Ängsten vor der Zukunft sowie dem Schrecken vor Horror und Gewalt stellen, wählen Filme wie "Das Schweigen der Lämmer", "Friedhof der Kuscheltiere", "From Dusk till Dawn" oder "Der mit dem Wolf tanzt".
Abbilder der eigenen Wirklichkeit
Wenn Jugendliche Medieninhalte auf ihr eigenes Leben beziehen können, dann kommt
es zu einem intensiven Medienerleben. Medieninhalte werden als Abbilder der
eigenen Wirklichkeit (wieder-)erkannt. Die Jugendlichen sehen ihre persönlichen
Themen und Lebenserfahrungen in den Mediengeschichten widergespiegelt.
Für die Suche nach einem Spiegel für ihre Themen in den Medien gibt es drei
Phasen. Dieser Prozess beginnt mit 13 bis 14 Jahren, wenn sich die jeweils persönlichen
Themen herausbilden (Abschied von der Kindheit; Angst vor dem Unbekannten; Abgrenzung
gegenüber den Eltern; Suche nach dem unbekannten bzw. abwesenden Vater; Abgrenzung
gegenüber der überfürsorglichen Mutter; Rebellion gegen Autoritäten).
Mit 15 oder 16 Jahren schält sich dann das persönliche Thema stärker heraus;
dieses Thema wird die Jugendlichen jeweils noch lange begleiten und bezieht
sich vor allem auf folgende Aspekte: Die Erfahrungen mit sich selbst; das Erkennen
der eigenen Stärken und Schwächen; die Erlebnisse mit den Freundinnen und Freunden
sowie mit der (ersten) Liebe.
Mit etwa 19 Jahren werden dann die persönlichen Themen deutlich und bewusst.
Es war überraschend, dass den befragten Jugendlichen auch nach fünf Jahren noch
bestimmte Lieblingsmedien aus ihrer Zeit als 13- oder 14-Jährige wichtig waren.
Die Themen und Probleme, die dort angesprochen wurden, besitzen für sie immer
noch eine verblüffende Aktualität. In ihrem Rückblick auf die Zeit der Adoleszenz
stellen die jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen fest, dass ihnen die Medien
und ihre Inhalte vor allem als ein Echo sowie als ein "Spiegel der Selbstvergewisserung"
dienten. Gerade für ihre Suche nach dem Vater und ihre Suche nach den eigenen
Wurzeln waren die Medien hilfreich. Im Spiegel der Mediengeschichten erkennen
die Jugendlichen sich selbst sowie ihre Themen wieder.
Medieninhalte als sozialer Nutzen
Die Jugendlichen verwenden die Medien vor allem auch dazu, um mit ihrer Umwelt
in Kontakt zu treten. Medien bilden einen Rahmen für gemeinsame Tätigkeiten
sowohl in der Familie als auch in den Gleichaltrigen-Gruppen (gemeinsames Fernsehen,
Musikhören, Video- und Telespielen, gemeinsamer Besuch von Kinos, Konzerten,
Büchereien u.a.). Medieninhalte sind Thema von Gesprächen mit Freundinnen und
Freunden, mit Geschwistern und Eltern. Entgegen der geläufigen Auffassung, dass
beispielsweise das Fernsehen die Familienmitglieder voneinander isoliert, wird
in den von uns befragten Familien meist sehr viel über das Fernsehen und andere
Medien geredet. Dieses gemeinsame Reden und Sich-Austauschen findet etwa bis
zum 15. Lebensjahr statt. Ab dem 16. Lebensjahr nimmt dies wieder ab, wie ja
auch die Fernsehnutzung der Jugendlichen überhaupt. Sie wollen sich mehr mit
den Freundesgruppen treffen sowie sich mehr von den Geschmacksvorlieben und
Alltagsgewohnheiten der Eltern absetzen. Ferner werden - wie erwähnt - in diesem
Alter die Themen Schute, Ausbildung, Studium, Beruf und die positiven und negativen
Erfahrungen mit ihren Freundschaften wichtiger. Das Reden und Sich-Austauschen
über Medien insgesamt ist jedoch ein selbstverständlicher Bestandteil der alltäglichen
Kommunikation geworden und bekam in den Familien sowie in den Gleichaltrigen-Gruppen
eine besondere Qualität. Denn das Sprechen über Serien oder Spielfilme erlaubt
es den Jugendlichen, die Mediengeschichten abzuwandeln, indem sie beim Erzählen
ihre eigene Erfahrungen und Gefühle mit einbeziehen und so nicht gleich mit
ihrem eigenen Thema oder ihrer eigenen Meinung herausrücken müssen.
In den Familien und vor allem in den Gleichaltrigen-Gruppen benutzen die Jugendlichen das Reden und Sich-Austauschen sozusagen als "Ouvertüren", um sich selbst in ein Gespräch einzubringen und einzumischen. Dies ermöglicht ihnen, dabei die eigenen Wünsche, Ängste und Probleme erst einmal hinter dem Berg zu halten, um auszuprobieren, wie das (eigene) Thema (als Medienthema getarnt) überhaupt aufgenommen wird. Dazu gehört auch die Provokation, um sich selbst und die anderen zu testen. Gelingt ihnen dies, dann können die Jugendlichen leichter von sich und über sich reden.
Die Eltern der befragten Jugendlichen ihrerseits berichten, dass ihre Töchter
und Söhne ihnen oft ausführlich von Spielfilmen oder Serien erzählen, sodass
für sie eigentlich deutlich auf der Hand liege, was ihr Kind innerlich beschäftige.
So sprächen die Jugendlichen ihre Eltern nach dem gemeinsamen Anschauen von
Beziehungsfilmen oft auf die Eltem-Paarbeziehung an ("Lasst ihr euch auch scheiden?",
"Liebt ihr euch noch?", "Werdet ihr auch zusammen alt?"). Da die Medien kaum
ein Thema tabuisieren, wird in den Familien auch zunehmend über heikle Themen
wie Aids, Drogen, Sexualität, Trennung/Scheidung der Eltern und Ähnliches geredet,
Themen, die von den Eltern oft nur zögerlich angesprochen werden. Die Jugendlichen
und ihre Eltern lernen sich übers Fernsehen auch gegenseitig kennen (Kommentare
abgeben, Streitgespräche führen, Emotionen kennen lernen: "Warum regt sich die
Mutter bei dieser Szene so auf?"). Die Jugendlichen fragen ihre Eltern nach
ihrer Meinung; sie wollen wissen, was ihnen gefällt, sie wollen herausfinden,
was sie selbst mögen und wie sie dies ihren Eltern erklären können.
Manchmal gibt es dabei auch Überraschungen: "Was, das findest Du gut?" fragt
ein 14-jähriger Sohn, als seine Mutter gerade einen alten Schlager mitsingt.
Oder eine Mutter: "Wenn 'Sissi' im Fernsehen kommt, dann sag ich zu ihr: Komm,
das musst du dir anschauen, das ist die Jugend deiner Mutter". Medieninhalte
werden somit Fenster zur Medienbiographie der Eltern, öffnen Kindern den Blick
für die Jugendzeit ihrer Eltern. Das Reden über die Medien und ihre Inhalte
erleichtert so in den befragten Familien die Verständigung zwischen den Generationen
und Geschlechtern.