M 02.11 "Big Brother" - Faszination und Distanz
 


Nie zuvor löste die Ankündigung eines neuen Sendeformats ähnlich heftige Reaktionen aus: die gesamte Feuilletonlandschaft der Republik hatte sich schon vor dem Big Brother-Sendestart medial über das Voyeur-Spektakel erbrochen, namhafte (v.a. christdemokratische) Politiker schossen sich auf das neu gefundene Feindbild ,ein und forderten gar ein Ausstrahlungsverbot und Medienwächter, von deren Existenz die 'meisten bislang eigentlich gar nicht wussten, zettelten aufgeregt eine alberne Menschenwürdediskussion an (dazu nur: volenti non fit iniuria!). Die Teilnehmer der Sendung beschimpfte man als "bescheuerte Exhibitionisten", das Format als "Sozialporno" (Stern).

Heute, gerade mal ein Vierteljahr später, ist die anfängliche Hysterie schon kaum mehr nachzuvollziehen. Wer die Sendung wenigstens beiläufig verfolgt hat, sieht all die schlimmen Befürchtungen eigentlich ad absurdum geführt: .entgegen der landläufigen Befürchtung, die zehn Probanden werden auf engstem Raum "wie Tiere" zusammengepfercht und die Kameras überwachen nur, wer wem und in welcher Reihenfolge an die Gurgel springt, war festzustellen, dass sich die Kandidaten eigentlich überwiegend gut amüsierten und nicht nur die arbeitslosen John und Zlatko anmerkten, dass sie zu Hause weit weniger komfortabel als im RTLII-Sendecontainer hausten. Dazu kommt, dass von Voyeurismus kaum die Rede sein kann, wenn in jeder Niveawerbung mehr nackte Haut zu sehen ist als in den wenigen Sendungen, in denen tatsächlich einmal einer der Bewohner (von schräg oben auf den Rücken gefilmt) beim Duschen gefilmt wurde. Auch am Ende nahm kein schamloser Selbstdarsteller die 250.000 DM mit nach Hause, sondern ausgerechnet John, der zarteste Hausbesetzer aller Zeiten, der den ganzen Tag nur backte, kochte und putzte, wenn er nicht gerade darüber weinte, dass ihn sein Freund Alex missverstanden hatte.

Platz 2 ging an Jürgen, einen dämlich-biederen Familienvater und Fordmechaniker aus Köln. Nur - der Skandal blieb aus und zwei Fragen offen: warum fühlten sich so viele Menschen von Big Brother so angegriffen, und warum war das Format auch ohne die befürchteten oder erhofften Tabuverletzungen so erfolgreich?

Zum ersten Punkt muss man wohl sagen, dass sich da einige, meist ältere Funktionsträger noch immer nicht ganz mit dem Prinzip von Privatfernsehen abgefunden haben: es spielt überhaupt keine Rolle, ob ein 60-jähriger CDU-Politiker, Pfarrer oder Medienpädagoge das Leben im Container sehen will oder nicht, schließlich gehört er ja auch gar nicht zur Zielgruppe: für Medienpädagogen hat der liebe Gott schließlich SAT erfunden. Ich für meinen Teil bin beispielsweise seit Jahren davon überzeugt, dass der "Musikantenstadl" einen Verstoss gegen die guten Sitten darstellt, deswegen fühle ich mich jedoch noch nicht gezwungen, bei jeder Gelegenheit eindringlich zu erläutern, warum ich mir diese Sendung gerade nicht ansehe. Vor allem ist mir bewusst, dass ein Beschimpfen der Teilnehmer eines Formats auch eine Beleidigung seines Publikums darstellt. Gerade diesen Aspekt scheint der eine oder andere Kritiker von Big .Brother wohl übersehen zu haben: Wer die Containerinsassen als dumm, primitiv und uninteressant abkanzelt, hat damit vor allem die Zuschauer getroffen, die sich mit den Hausbewohnern identifizieren. Und wer scheinheilig mit dem Finger auf einen mazedonischen Automechaniker zeigt, weil der nicht weiß, wer Shakespeare ist, sollte sich mal zurücklegen und fragen, wie viele seiner Bücher er selbst denn gelesen hat. Oder ist die Tatsache, von der Existenz eines Schriftstellers namens Shakespeare Zu wissen bereits ausreichend, um auf Menschen wie Zlatko herabzusehen? Einige Politiker echauffierten sich, dass die WG-Bewohner offen zugaben, nicht zur Wahl zu gehen, sprechen ihnen aber andererseits die Kompetenz ab, sich Selbstverantwortlich für ein derartiges Projekt zur Verfügung zu stellen. Andere erzwingen wegen der Menschenwürde (!) eine kamerafreie Stunde im Container und fordern gleichzeitig die Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen. "Wo ist denn da nun Big Brother? Wer tatsächlich einen neuen Tierpunkt der Fernsehunterhaltung gekommen sieht, nur weil man zehn echte Menschen beim Frühstücken beobachten kann, der hat die Entwicklung des Privatfernsehens in den letzten Jahren komplett verschlafen. Auch den Medienwächtern, die sich nun nach jahrelangem Aufenthalt in der Versenkung so eindrucksvoll zurückgemeldet haben sei gesagt: eine frühzeitige Reflexion der nachmittäglichen Talkshows, des mit Big Brother fast konzeptgleichen und protestlos hingenommenen tm3-projekts "Geld für dein Leben" oder das meines Erachtens in der Tat (leicht) menschenverachtende "Takeshis Castie" auf DSF hätte die harsche Big Brother-Kritik wohl weitgehend relativiert. Die Big-Brother-Schelte kann man nur als öffentliche Hysterie bezeichnen. Nur so ist zu erklären, dass man sich das Format gar nicht ansehen musste, um von vornherein eine felsenfeste Meinung haben zu können und dass es selbst heute noch Menschen gibt, die Big Brother "aus Prinzip" nie gesehen haben. Ein bisschen erinnert das alles an den Shell-Boykott während Brent Spar: erst als alles lange vorbei war musste auch Greenpeace eingestehen, dass die Versenkung der Bohrinsel eigentlich der normale und auch der ökologisch mit den geringsten Risiken verbundene Weg gewesen wäre, doch als der Meinungsstreit tobte, war die Öffentlichkeit nicht an unabhängigen Gutachten und Tatsachen interessiert und zahlreiche Prominente riefen, von der Richtigkeit ihrer Sache überzeugt, in den Medien zum Boykott von Shell auf. Alle waren sich so unheimlich sicher, ohne dass sich auch nur einer tatsächlich mit den ökologischen Konsequenzen auseinandergesetzt hätte. Shell machte Milliarden Verluste - RTLII den Reibach seiner Firmengeschichte: während sich die Autofahrer an den Boykott hielten, war für junge Zuschauer das Medientheater die beste Werbung. Was Kirche und CDU verbieten wollen ist gut per Definition. Darüberhinaus machte es wohl den einen oder anderen Skandalhungrigen doch neugierig auf schockierende Bilder, auch wenn er letztendlich bei Big Brother an der völlig falschen Adresse war.

Was aber ist nun so fesselnd, dass RTLII in Hochzeiten einen Marktanteil von 70 % der 14- bis 29-Jährigen erreichen konnte? Das Geheimnis von Big Brother sind eindeutig seine Kandidaten. Das Projekt vertraut auf die Zugkraft normaler Menschen (bis auf einige Ausnahmen: zum Beispiel der Gastauftritt von Verona Feldbusch) und nimmt diese im Gegensatz zu Daily Talks und Boulevardmagazinen ernst. Es werden keine besonderen Schicksale oder Eigenheiten herausgepickt und ausgeschlachtet, sondern man gibt dem Zuschauer 100 Tage Zeit, die Protagonisten kennenzulernen, sich ein ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen. So bezog die erste Staffel einen Großteil ihres Reizes aus der Tatsache, dass die etwas klischeehaft besetzten Hausbewohner mit jedem Tag ihrer Rolle mehr und mehr entschlüpften. Der Super-Macho Alex, der bei der Vorstellung der Kandidaten nackt auf seiner Harley posierte und mit vergessenen Damenslips unter seinem Bett prahlte, erwies sich als ruhiger, ausgeglichener Mensch, und in seiner Containerbeziehung zur Berliner Schauspielerin Kerstin verhielt er sich auch nicht gerade so souverän, wie man das von einem Weiberheld eigentlich hatte erwarten können. Gewinner John war ein derart weicher und schüchterner Zeitgenosse, dass man sich seine wilde Potsdamer Hausbesetzervergangenheit überhaupt nicht vorstellen kann. Das mit Telefonsex sein Geld verdienende Erotik-Model Jana war als Sexvamp angekündigt worden und entpuppte sich als biederer Trampel, "der die ganze Zeit ungepflegt mit lustlosem Gesicht durch die WG schlurfte und allen (Mitbewohner und Publikum) mit ihrem "Ich vermiss meinen Freund"-Geschwafel auf die Nerven fiel. Die Zuschauer hatten Mitleid mit ihr und sich und schickten sie nach drei Wochen nach Hause zu ihrem Freund, wo "die beiden bis heute vergeblich auf lukrative Angebote warten.

Auch Zlatko, der Superstar der Sendung, fiel anfangs nur als zwielichtiger Halbstarker im Stringtanga auf, bevor er sich "schließlich mit enormem Einsatz als tumber Tor in die Herzen der Zuschauer lebte. Soviel Naivität wurde belohnt: bis heute hat "Zladdi" eine knappe Million Schallplatten verkauft. Diese Liste ließe sich beliebig fortsetzen und zeigt, dass auch die einfach gestrickten Menschen eben doch mehr Tiefgang besitzen als die bestausgedachte Figur in einem Spielfilm. Die Frankfurter Rundschau bemerkte sehr treffend: "Wer Big Brother aufmerksam verfolgt und den übertragenen Gesprächen zugehört hat, erfuhr von Misshandlungen, denen John und Sabrina; im Kindesalter ausgesetzt waren, lernte Sabrina als empfindsamen Menschen kennen, erlebte, wie wirklichkeitsgetreue WG-Konflikte und auch persönliche Animositäten durch offene Gespräche" ausgeräumt,:wurden, sah unter Umständen eigene Vorurteile in Frage gestellt. Sobald derartige Dinge in anspruchsvollen TV-Filmen und Dokumentationen zur Sprache kommen, winken Preise. Finden die Betroffenen ein Forum in Sendungen, deren Klientel von anderen Sendeformen kaum noch erreicht wird, ist von TRASH-TV die Rede und die Mitwirkenden müssen sich zum Abfall rechnen lassen."

Warum ich mir fast jede Big Brother-Folge mit so großer Faszination angesehen habe, entdeckte ich, als ich nach einigen Wochen direkt nach Big Brother durch die restlichen Kanäle zappte: egal, wo ich landete, ob ARD-Tatort, ZDF-Heimatfilm, Sat 1-Krankenhausserie oder ProSieben-Mysterie, nie zuvor war mir die Machart dieser Sendungen derart bewusst: die schwachen Schauspieler, die aufgesetzten Dialoge, die konstruierte Dramaturgie, die uninteressanten Probleme von Münchner Villen- und Hamburger Loftbewohnern. Die Aufregung über Big Brother ist eigentlich paradox, handelt es sich doch um das Kontrastprogramm zur restlichen TV-Landschaft, für ein Publikum, das die Nase voll hat von vorhersehbaren Stories, dramatisierender Musik, wilder Action und oberflächlichen Charakteren: im Leben gibts eben keine Guten und keine Bösen, kein programmiertes Happy End, keine Streicherklänge beim Liebesakt, sondern nur eine Bettdecke, die ruckelt. Auch wenn sich herausstellen sollte, dass Endemol die Telefonabstimmungen gefälscht hat (und so abwegig ist diese Vorstellung nicht) und die Wahrnehmung der Charaktere durch gezielte Auswahl des gesendeten Materials bewusst gesteuert hat, ist Big Brother immer noch ehrlicher als das übrige Fernsehen. Wenn im Container aus so unterschiedlichen Menschen wie John und Alex, Jürgen und Zlatko oder Manu und Kerstin Freunde geworden sind, dann nicht weil es sich ein Autor ausgedacht hat, sondern weil sie tatsächlich irgendwie zusammenpassten.

TV-Analysen haben ergeben: der Big Brother-Zuschauer ist im Durchschnitt ziemlich jung und überdurchschnittlich gebildet. Er gehört zur nachwachsenden Generation von Fernsehzuschauern, und das ist eine Generation, die sich nicht mehr mit dem aktuellen Fernsehangebot zufrieden gibt. Und solange die Autoren, Dramaturgen und Regisseure mit ihren Geschichten diese Menschen nicht mehr erreichen, bleibt das Bedürfnis nach etwas echtem, weniger aufgesetztem bestehen. Die zweite Staffel von Big Brother startet im September. Die Aufregung wird diesmal wohl ausbleiben, der Erfolg dagegen sicher nicht.

Der Autor MATTHIAS VOGEL ist 21 Jahre alt Und studiert Jura und Philosophie in Heidelberg. Für "Sulzbach 2032"erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Bayerischen Jugendfilmpreis 2000.
Aus: Matthias Vogel: Big Brother-Sehen ist Medienkritik, in: medien + erziehung 4/2000, S. 245 - 248.
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