M 02.12 Medienethische Überlegungen
 


"Ich würde es nicht mehr machen, nicht ein zweites Mal, und wenn ich diese Konsequenzen wüsste, würde ich es auch kein erstes Mal machen, aber ich bereue es nicht, dass ich es gemacht habe ..."
Kerstin, Big Brother-Bewohnerin

Ein neues "TV-Format"

Vom 1. März bis 9. Juni 2000 hat der Privatsender RTL2 die erste Staffel eines neuen TV-Formats mit dem Namen Big Brother ausgestrahlt und diese Sendung auf der dafür eigens eingerichteten Homepage im Internet mit folgenden Worten werbewirksam vorgestellt: "Junges Fernsehen der Zukunft - konfrontativ und polarisierend, alles andere als korrekt. Authentisch, direkt und offen, ein Stück echtes Leben live - zelebriert für das große Fernsehpublikum. Eine Real-Life-Soap, zu der es kein Drehbuch gibt: intime Bilder der deutschen Gesellschaft 2000. Mit realen Konflikten, wie unser Leben selbst sie spielt. Ein neues TV-Erlebnis - für neugierige, engagierte Zuschauer mit Interesse an hochmodernem Fernsehen."

Bereits im Vorfeld der Ausstrahlung hat Big Brother für diese konfrontative und polarisierende Diskussion gesorgt. Dabei stand die Frage im Vordergrund, ob eine Fernsehsendung wie Big Brother, bei der Menschen rund um die Uhr von Kameras beobachtet werden, noch den verfassungsgemäßen Schutz der Menschenwürde garantiere und medienrechtlich zulässig sei. Auf der Sitzung der Direktorenkonferenz der Landesmedienanstalten am 24. 2. 2000 in Frankfurt/M. haben die Mitglieder über das Programmvorhaben von RTL 2 diskutiert und ihre moralischen wie juristischen Bedenken geäußert. Hier wurden eine Reihe grundlegender Probleme erörtert - etwa die gesellschaftlichen Auswirkungen einer solchen Spielshow, die psychischen Risiken der Teilnehmer und damit die Verletzung der Menschenwürde. Diesen kritischen Anfragen begegnete RTL 2 mittels zweier juristischer Gutachten, die beide die medienrechtliche Zulässigkeit der Sendung Big Brother betonten. (...)
Folgender Beitrag möchte im Rahmen einer medienethischen Analyse das TV-Format Big Brother bewerten sowie implizit die grundsätzliche Frage nach den Grenzen des Unterhaltungsfernsehens stellen.

Medienethische Problemfelder

Medienethik untersucht Kommunikationsmittel im Hinblick auf ihren ethischen Wert und formuliert normative Handlungs- und Ordnungsanweisungen. Sie wird der Sozialethik zugeordnet, welche sich mit sozialen Gebilden (Strukturen) beschäftigt und diese auf ihren humanen Aspekt hin prüft und gegebenenfalls kritisiert und korrigiert. Ausgangspunkt jeder ethischen Argumentation ist die sittliche Existenz des Menschen, die sich in seiner Autonomie und Rationalität zeigt. In dieser Bestimmung wurzelt die Rede vom Menschen als Person und mithin auch seine unveräußerliche Würde. Das für die Sozialethik grundlegende Personprinzip besagt, dass jeder Mensch als ein mit Würde ausgestattetes Subjekt zu begreifen ist und dass die freie Persönlichkeitsentwicklung weder durch andere Menschen noch durch gesellschaftliche Strukturen behindert oder gar aufgehoben werden darf

Nach der Darstellung und Einordnung des TV-Formates Big Brother stellt sich die Frage, wie diese Sendung medienethisch zu bewerten ist. Auch wenn die juristischen Fachgutachten zu anderen Ergebnissen gekommen sind, missachtet nach folgender Interpretation Big Brother die Würde der Kandidaten und Rezipienten. Sowohl Produzenten als auch Distributeure sind ihrer Verantwortung hier nicht nachgekommen. Zentrale medienethische Problemfelder können u. a. anhand von vier thesenartigen Punkten vorgestellt werden: (l) Bei Big Brother handelt es sich um eine eingeschränkte Freiheit der Kandidaten. (2) Die Teilnehmer werden unter kommerziellen Gesichtspunkten für Zwecke des Senders instrumentalisiert. (3) Bei Big Brother kommen manipulative Werbemaßnahmen vor, die die Rezipienten nur schwer durchschauen können. (4) Big Brother präsentiert zu Unterhaltungszwecken ein in der Gesellschaft geächtetes Sozialverhalten (d.h. Mobbing). (...)

Eingeschränkte Freiheit

Gemäß den internen, nicht für die Öffentlichkeit bestimmten Spielregeln haben jedoch die Big Brother-Produzenten die Möglichkeit, in das Spiel einzugreifen: "Big Brother hat das Recht, die Regeln jederzeit zu ändern, um redaktionellen und technischen Erfordernissen Rechnung tragen zu können." Mit dieser Bestimmung erhält das gesamte Spiel ein großes Stück Ungewissheit. Die Kandidaten haben keinen Überblick über das, was mit ihnen geschieht; sie werden zum Spielball der Redaktion. Kandidaten können sich erst dann frei für die Teilnahme an einem solchen Projekt entscheiden, wenn ihnen die Spielregeln ein gewisses Maß an Situationssicherheit bieten. Diese Bedingung scheint gemäß der zitierten Regel bei Big Brother nicht gewährleistet zu sein. Für die Teilnahme am Spiel ist weiterhin entscheidend, dass die Kandidaten jederzeit das Projekt abbrechen und den Wohncontainer verlassen können. Um von dieser Regel aber Gebrauch zu machen, ist die Information über sämtliche Ereignisse um das Big Brother-Spiel notwendig. Aufgrund der totalen Abgeschlossenheit von der Umwelt ist den Teilnehmern dieses Wissen jedoch verwehrt.

So wusste die Bewohnerin Manu beispielsweise nichts von den zum Teil herabsetzenden Kommentaren über ihre Person im Internet (Chat); sie konnte auch nicht wissen, dass auf dem Big Brother-Gelände am 9. April (Auszug des Bewohners Zlatko) Plakate mit entwürdigenden Aufschriften hochgehalten und vom Sender RTL 2 in Großaufnahme mehrmals gezeigt wurden - eine Kommentierung dieser Szenerie in dem anschließenden Talk blieb aus. Im Falle der Kandidatin Manu ist der Veranstalter RTL 2 seiner Fürsorgepflicht nicht nachgekommen, die der Sender immer wieder betont hat. Zwar hat Manu die von draußen kommenden Schmährufe gehört (unter diesen in der darauffolgenden Woche auch merklich gelitten), doch ein umfassendes Wissen über ihr Image in der realen Welt blieb ihr vorenthalten. Möglichst vollständige Informationen sind für autonome Entscheidungen aber unverzichtbar. (...)

Kommerzialisierung der Kandidaten

Ein zweiter ethischer Problemkreis bei Big Brother betrifft die Instrumentalisierung und Kommerzialisierung der Kandidaten. Zwar wissen die Kandidaten, dass aus dem zur Verfügung stehende Filmmaterial ausgewählt werden muss, doch sie wissen nicht, welche Bilder die Redaktion verwendet und was die ausgestrahlten Aufnahmen beim Zuschauer vermitteln sollen. Natürlich wird im Journalismus immer ausgewählt, die mediale Berichterstattung kann niemals die ganze Wirklichkeit abbilden. Bei Big Brother liegt aber der Verdacht nahe, dass die ca. 50-minütigen Sendungen ein bestimmtes Image der Kandidaten präsentieren wollen, welches mit den Senderinteresse kompatibel erscheint. Hier kann von einer bewussten Inszenierungspraxis von RTL 2 gesprochen werden. Dabei wird das ausgestrahlte Filmmaterial allein nach dem Prinzip der Quotenträchtigkeit ausgewählt. (...)
Rainer Laux von RTL 2 weist aber den Vorwurf der Zuschauer-Beeinflussung durch die ausgewählten Bilder zurück und macht auf das Internet aufmerksam, in dem schließlich alle Bilder zu sehen seien. Doch auch im Internet ist eine weitgehende objektive Rezeption kaum gegeben, da die User nicht die Bilder aller Kameras gleichzeitig anschauen können, von der verzerrten Bildqualität einmal ganz abgesehen. Trotz der Internetpräsenz beruht die Wirkung von Big Brother bei den Zuschauern letztlich auf dem Erfolg der täglichen Fernsehsendung. Wie sehr sich die Kandidaten dem Interesse des Senders - nämlich hohe Einschaltquoten mit den damit verbundenen Werbegeldern zu erzielen - beugen müssen, wird besonders in dem inoffiziellen Regelbuch deutlich. Danach behält sich Big Brother vor, eine Nominierungsrunde zu annullieren. Das heißt, dass der gesamte Ablauf des Spiels fest in den Händen der Redaktion bleibt, sie somit direkt in das Geschehen im Haus eingreifen und darüber entscheiden kann, über welche Kandidaten die Zuschauer per Telefon abstimmen sollen und über welche nicht. Kandidaten, die für die gruppendynamische Entwicklung im Sinne des Senders wichtig sind, können somit mit dem "Schutz" der Produzenten rechnen. Die Bewohner werden auf diese Weise zu Objekten des übermächtigen, sprichwörtlichen Big Brother.

Manipulative Werbung

Die Unterhaltungsshow Big Brother verfolgt ein rein kommerzielles Interesse. Gewinnstreben und Wettbewerb sind zweifellos unverzichtbare Elemente für das marktwirtschaftlich organisierte Fernsehen. Bei Big Brother überlagert jedoch der ökonomische Imperativ das gesamte Spiel. Man kann sich dem Eindruck nicht ganz verschließen -und das ist der dritte kritische Punkt -, dass das Leben im Wohncontainer letztlich so inszeniert wird, dass Big Brother an vielen Stellen wie eine große Werbeveranstaltung wirkt, die die (zumeist jungen) Zuschauer zum Kauf bestimmter Produkte anregen soll. Natürlich ist Werbung unverzichtbarer Bestandteil einer funktionierenden Wettbewerbsgesellschaft und unter sozialethischen Gesichtspunkten prinzipiell gegen jede Beschneidungsversuche zu verteidigen, doch gilt als grundlegendes werbeethisches Prinzip die Trennung von Programm und Werbung und die damit einhergehende Kennzeichnungspflicht von Werbung. Diese Differenzierung ist bei Big Brother aber fraglich. Wenn eine Werbemaßnahme als solche nicht gekennzeichnet und Konsumentensouveränität eingeschränkt wird, kann von einer ethisch illegitimen Form der Manipulation im Sinne getarnter Werbung gesprochen werden. Am 76. Tag hielt Jürgen beispielsweise während seines persönlichen Statements im Sprechzimmer den Wagen einer Modelleisenbahn der Marke Roco (Modellspielwaren Schweiz) sichtbar in die Kamera. Dieser ca. 50 Sekunden dauernde Auftritt wirkte wie ein Werbespot mit einem Präsenter. Allerdings wird eine ethisch illegitime Produktplatzierung in diesem Fall schwer nachzuprüfen sein, da Fernsehsender und Markenartikelhersteller hierüber keinerlei Informationen veröffentlichen.

Mobbing

Neben diesen drei Einwänden stellt sich bei Big Brother noch ein viertes grundsätzliches Problem. Dieses TV-Format präsentiert nämlich ein Verhalten, das in unserer Gesellschaft geächtet ist. Eines der Spielprinzipien ist das Mobbing: Das Spiel verlangt von den Bewohnern, dass sie sich für oder gegen Menschen entscheiden und ihre Sympathien bzw. Antipathien bei den alle zwei Wochen stattfindenden Nominierungen öffentlich kundtun. Im Mittelpunkt der Bewertung steht dabei die individuelle Performance der Mitkandidaten, d.h. ihre Persönlichkeit. Obwohl die Kandidaten von dieser Spielregel vor dem Einzug in das Big Brother-Haus in Kenntnis gesetzt worden sind, konnte man bei allen Nominierungen und der sich anschließenden Bekanntgabe der Ergebnisse emotionale Regungen wie Ratlosigkeit, Betroffenheit, Frustration, Ärger, Wut etc. feststellen. Den Kandidaten fiel es teilweise sehr schwer, die offene Ablehnung im Hinblick auf ihre Person zu ertragen und zu verarbeiten (z. B. Jona). Auch wenn Mobbing zum Alltag einer Konkurrenz-Gesellschaft gehört und viele Menschen unter den Antipathien anderer leiden, ist medienethisch zu fragen, ob ein solches Prinzip als konstituierendes Element ein Unterhaltungsshow eingesetzt werden darf. Da Big Brother nicht auf Konfliktlösung, sondern ehr auf Konfliktsteigerung zielt, wird dieses TV-Format von seinem Grundansatz her auch keine positiven Modelle für gelingende Formen des zwischenmenschlichen Zusammenlebens anbieten. Diese Frage nach den Grenzen im nichtfiktionalen Unterhaltungsbereich ist um so drängender, weil mittlerweile auch andere Shows des perfomativen Realitätsfernsehens Mobbing zum unterhaltsamen Prinzip erklärt haben.

Aus: Thomas Bohrmann: Big Brother. Medienethische Überlegungen zu den Grenzen von Unterhaltung, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 41-42/2000, S. 3 - 10.
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