M 04.03 Was weiß die Wissenschaft?
 


Hunderte von Studien haben zu etlichen unterschiedlichen Vorstellungen geführt, wie sich Gewaltdarstellungen auf Zuschauer auswirken könnten. Aber so sehr unterscheiden sich die Interpretationen vielleicht gar nicht.

Der Streit um die Wirkung der Medien ist schon weit über 2000 Jahre alt. Bereits Platon und Aristoteles, berühmte Philosophen der griechischen Antike, diskutierten zu ihrer Zeit über dieses Thema. Noch immer wird gestritten was das Zeug hält, und die Zahl verschiedener Thesen, die von Forschern gerade zum Thema Mediengewalt angeboten wird, ist groß. Sieht man jedoch genau hin, so stellt man fest, dass sich durch die Vielfalt der Beiträge ein roter Faden zu ziehen scheint: Die Mehrzahl der wissenschaftlichen Studien bietet durchaus Hinweise in eine bestimmte Richtung. Welche Ansätze existieren, mit denen die Wirkung von Gewalt in den Medien beschrieben wird?

These der Wirkungslosigkeit: Nach dieser Annahme haben Gewaltdarstellungen gar keine Wirkungen.

Katharsis-Hypothese: Diese auf Aristoteles zurückgehende Hypothese besagt, dass die Betrachtung von Gewalt die Neigung zur Gewalt verringert. Auch soll das "Austoben", etwa am Sandsack, Aggressionen abbauen. Die Bekanntheit dieser Hypothese steht allerdings im krassen Widerspruch zur Zahl ihrer wissenschaftlichen Vertreter und der Studien, die tatsächlich auf Aggressionen abbauende Effekte deuten.

Habitualisierungsthese: Gewaltdarstellungen führen zu einer Gewöhnung an Gewalt oder zu einer Abstumpfung.

Inhibitionsthese: Durch die Gewalt in den Medien werden Aggressionsängste geweckt und dadurch Aggressionen gehemmt.

Stimulationsthese: Modelle (Vorbilder) können aggressives Verhalten fördern Wissenschaftler wie Herbert Selg von der Universität Bamberg halten diese Vielzahl von Thesen allerdings für ärgerlich und überflüssig, da sich die Beobachtungen der Medienwirkungsforscher - ihrer Meinung nach - alle mehr oder weniger gut integrieren lassen in die schon lange existierende

Sozial-kognitive Lerntheorie von Albert Bandura. Der Ursprung dieser Theorie reicht bis in die sechziger Jahre zurück. Sie beschreibt das "Modell-Lernen": Kinder lernen nicht nur durch eigene unmittelbare Erfahrungen. Auch das Beobachten von Modellen, die gewissermaßen ein Vorbild darstellen, führt zu Lernprozessen. Dabei beobachtet ein Kind nicht nur das Verhalten des Modells (das ein Elternteil sein kann, ein Spielkamerad oder auch eine Film-Figur), sondern auch die Konsequenzen,dieses Verhaltens. Folgt etwa eine "Belohnung", so steigt die Wahrscheinlichkeit, dass das beobachtete Verhalten nachgeahmt wird. Eine Bestrafung dagegen führt zum Gegenteil. Nach Herbert Selg lassen sich die meisten - wenn nicht alle oben erwähnten Thesen in diese Theorie integrieren:

  1. Modelle können neues Verhalten vermitteln, also Lernen im engeren Sinne anstoßen. Das passt zu den Annahmen der Stimulationsthese und der Imitationsthese. Lernen am Modell bedeutet aber - entgegen häufigen Behauptungen - nicht, dass ein Verhalten einfach imitiert wird. Denn man kann ein komplexes Verhalten am Modell lernen, ohne es je imitierend selbst anzuwenden. Auch kann man aus mehreren Modellvorgaben etwas gänzlich Neues kombinieren.
  2. Modelle können hemmen und enthemmen Gehemmt wird die Tendenz eines Betrachters, sich auf eine bestimmte Art zu verhalten, wenn das Modell für das beobachtete Verhalten bestraft wird. (Das entspricht nun der Inhibitionsthese). Enthemmt wird die Tendenz zu einem Verhalten, wenn ein Modell mit dem Verhalten Erfolg hat. (Diese Beobachtung deckt sich weitgehend mit den Inhalten der Stimulations- und der Imitationsthese als auch mit der Enthemmungs-Hypothese).
  3. Modelle können Verhalten manchmal auch einfach direkt auslösen". (Dies deckt nun wieder Annahmen der Stimulations- und die Imitationsthese ab). (Natürlich zeigen Modelle immer wieder auch Verhalten, dass schon bekannt ist. Oder eine beobachtete Eigenschaft ist beim Betrachter schon vorhanden. Dann kann nichts gelernt werden, und das Modell ist "wirkungslos", wie es die gleichnamige These besagt).

Besondere Beachtung gebürt noch die Doppelte-Dosis-Hypothese: Diese Hypothese berücksichtigt - im Gegensatz zu den meisten anderen Ansätzen - von vorn herein besonders stark das Umfeld des Betrachters (oder Computerspielers). So scheint es, dass jene, die schon in der Familie viel reale Gewalt erfahren und zusätzlich noch viel Gewalt im Fernsehen miterleben, besonders anfällig sind, selbst Gewalt auszuüben. Die Hauptaussage dieser Hypothese ist: Gewalt in den Medien trägt dort zur Gewaltenstehung bei, wo der Alltag schon Gewalt beinhaltet, und deshalb bereits eine Gewaltbasis existiert. Die Medien allein dagegen machen vermutlich nicht gewalttätig. Ihre Wirkung kann aber zusammen mit anderen Ursachen die Wahrscheinlichkeit einer Gewaltanwendung erhöhen.

Intressante Überlegungen zu einem Wirkungsmodell der virtuellen Welt stellt Jürgen Fritz von der Fachhochschule Köln an. Der Medienpädagoge beschäftigt sich damit, wie und ob Inhalte von Spielen in die Realität übertragen werden und umgekehrt (Transfer). Fritz hält die so genannte Rahmungskompetenz für entscheidend, das heißt, die Fähigkeit, die reale Welt und die Computerwelt nicht zu vermischen. Auch Computerspieler sind dazu normalerweise in der Lage. Allerdings, so weiß Fritz, lässt sich nicht ausschließen, dass doch Inhalte von der einen in die andere Welt übertragen werden - möglicherweise aufgrund psychischer Probleme oder großem Stress. Befragungen von Computerspielern ergaben, dass diese "sehr wohl zwischen der virtuellen Welt und der realen unterscheiden können und dass sie Transfers von Gefühlen und Schemata zwar ab und zu erleben, diese aber gut unter Kontrolle haben", wie Fritz im "Handbuch Medien: Computerspiele" feststellt. Im gleichen Buch zitiert Fritz allerdings auch Kinder, die sehr anschaulich beschreiben, wie die intensive Beschäftigung von Kampfspielen zu Prügeleien führen kann. Die von Fritz befragten Jungen befanden sich in einem Alter, in dem sie dem Medienpädagogen zufolge lernen müssen, aggressive Impulse zu zügeln. Es "sollte nicht verkannt werden, dass das in speziellen Computerspielen modellhaft vorgeführte Verhalten Wirkungen auf die Aggressionsbereitschaft von Jungen haben kann", führt er aus. "So ist es durchaus denkbar, dass Spiele dieser Art die Tendenz zu körperlicher Auseinandersetzung bei Jungen in diesem Alter verstärken können." Die eigentliche Ursache für die Aggressionen sieht Fritz allerdings nicht in den Spielen, sondern eher darin begründet, dass Jungen in bestimmtem Alter dazu neigen, "auch mit körperlichen Austragungsformen von Konflikten zu "experimentieren", um dabei die Grenzen ihrer Handlungsmöglichkeiten zu erfahren."

Fazit: Die Erfahrung und Beobachtung von Gewalt hat, insbesondere nach der weithin akzeptierten Lerntheorie von Bandura, sicher eine Wirkung, besonders auf junge Menschen. Und wahrscheinlich ist sie negativ. Doch niemand, so sind sich Wissenschaftler wie Herbert Selg, L. Rowell Huesmann von der University of Michigan in Ann Arbor, Kevin Durkin von der University of Western Australian oder auch Jürgen Fritz von der Fachhochschule Köln einig, wird allein durch den Konsum von Mediengewalt zum Kriminellen oder gar zum Mörder. Vielmehr spielen hier noch andere Faktoren eine wichtige Rolle, die sich auf die Entwicklung eines Kindes auswirken - beispielsweise reale Gewalt im familiären Umfeld.

Aus: Markus C. Schulte: Mörderische Medien. Was weiß die Wissenschaft?, 29.02.2001
http://www.sueddeutsche.de/gesundheit/dossier/01335/?url=gesundheit%2Fdossier%2F0
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