M 04.09 Computerspiel- und Internetsucht
 


Die einen werben mit dem Suchtfaktor als Qualitätsmerkmal für Computerspiele, um den Absatz kräftig anzukurbeln, andere versuchen eine Selbsthilfegruppe für Internetsüchtige ins Leben zu rufen. Zwiespältig, wie es nur das Leben mit all seinen Facetten sein kann, wollen nun auch noch Berliner Psychologen der Humboldt-Universität ein Instrumentarium [0] zur Erkennung von Suchtmerkmalen entwickeln.

Schätzungen [1] gehen davon aus, dass zwischen neun und dreizehn Prozent aller Online-Besucher das Internet zwanghaft nutzen. Die sogenannten Internet-Junkies verbringen bis zu 60 Stunden in der Woche im Netz, während der "normale" User ca. 10 Stunden online ist. Dr. Oliver Seemann von der Psychiatrischen Universitätsklinik München spricht sogar schon von einer neuen Krankheit, dem "Internet-Abhängigkeits-Syndrom" (IAS). Zwar liegt noch keine genaue Definition der "Online-Sucht" vor, aber man kann davon ausgehen, dass folgende Merkmale zur Früherkennung dienen:

  • Mehrfach am Tag nach Email schauen
  • Beim Chatten keine Grenzen kennen
  • Zwanghaft nach Kommunikationsmöglichkeiten Ausschau halten
  • Surfen und Chatten als einzige Freizeitbeschäftigung (Vernachlässigung von weiteren sozialen Beziehungen)
  • Verstecken hinter der Tastatur (Einigeln und Abschotten)
  • Verschuldung durch immense Online-Gebühren
  • Geringe Zeitkontrolle bei Online-Sitzungen
  • Grad der Befriedigung nach Nutzung des Netzes baut sich immer schneller ab

Entscheidend für das Erkennen einer Abhängigkeit ist der innere Zwang, den Konsum trotz vorliegender Bedenken fortzusetzen. Sucht bedeutet in diesem Zusammenhang Unfreiheit. Der Mensch ist in seinem selbstbestimmten Handeln eingeschränkt.
Hans D. Zimmerl von der Universität Innsbruck empfiehlt nach einer 1998 durchgeführten Online-Studie [2] folgende diagnostische Kriterien:

  • Häufiger, unwiderstehlicher Drang, ins Internet einzuloggen
  • Kontrollverluste (=länger als beabsichtigt online sein), einhergehend mit Schuldgefühlen
  • Negative soziale Auffälligkeit im engsten Umkreis
  • Nachlassende Arbeitsfähigkeit
  • Verheimlichung des Ausmaßes der Online-Zeiten
  • Psychische Irritabilität bei Verhinderung online zu sein
  • Mehrfache vergebliche Versuche der Einschränkung

Daraus resultiert die diagnostische Einteilung:

  • Gefährdungsstadium: Vorliegen von zumindest 3 Kriterien über bis zu 6 Monate Dauer
  • Kritisches Stadium: Vorliegen von zumindest 4 Kriterien über bis zu 6 Monate Dauer
  • Chronisches Stadium: Vorliegen von 4 oder mehr Kriterien über länger als 6 Monate Dauer

Im Bereich der Drogen- und auch der Alkoholsucht kommt neben der psychischen noch eine physische Abhängigkeit hinzu. Das ist auch der Grund, warum neben der psychotherapeutischen Behandlung auch eine körperliche Entgiftung erforderlich ist. Ein typischer Grundsatz dieser Therapien, nämlich die absolute Abstinenz der Droge zu erreichen, kann bei der Internet-Abhängigkeit lediglich bedingt gelten. Der notwendige psychotherapeutische Ansatz in der Selbsthilfegruppe oder professionellen Therapie kann nur in der Vermittlung und Erkenntnis liegen, einen eigenen verantwortungsvollen Umgang zu erlernen. Oft sind aber weitere psychotherapeutische Maßnahmen einzuleiten, denn das Netz an sich wird kaum der einzige Anlass sein. Vielmehr liegen häufig auch Beziehungsprobleme und andere Verhaltensstörungen vor. Manchmal ist es ganz sicher die Flucht vor der Wirklichkeit in eine anonyme Scheinwelt. Hier kann man sich mit anderen Problemen befassen oder "just for fun" aktiv werden und einfach mal in eine Rolle schlüpfen.

Erste Hilfe
Das Netjunk-Forum [6] bietet einen Platz zum Erfahrungsaustausch an. Wer möchte, kann seine Geschichte erzählen, allerdings gibt es noch nicht viele Bekennende.
Gabriele Farke litt selbst an der Internetsucht und hat aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen die Site hexenkuss.de [7] als Treffpunkt für Online-Süchtige eingerichtet. Neben vielen anderen - recht kunterbunten - Links soll es hier auch Wegweiser zu psychologischen Beiträgen, wissenschaftlichen Erhebungen und Therapieangeboten geben. Das Hexenkuss-Forum [8] scheint kräftig aufgeräumt zu sein, denn es finden sich kaum erwähnenswerte Beiträge. Alles macht einen eher unbeholfenen und laienhaften Eindruck, als ob nur die Autorin und ihre Bücher vermarktet werden sollen.
Professioneller zeigt sich die Site der Selbsthilfegruppe HSO e.V. Hilfe zur Selbsthilfe für Online-Süchtige [9]. Die Gründungsversammlung wählte am 18.06.99 Frau Farke als Bundesvorsitzende des Fördervereins zur Selbsthilfe. Gleichzeitig beschloss die Versammlung, Ortsgruppen zu gründen. Erste regionale Kontaktstellen [10] befinden sich derzeit schon im Aufbau. Auf der HSO-Site findet sich ebenfalls ein Forum [11], in dem heftig diskutiert wird. Hier wird u.a. auch darüber berichtet, dass Online-Spiele ein Suchtverhalten auslösen und so manchen in den finanziellen Ruin treiben können.

Links
[0] http://www.internetsucht.de/
[1] http://focus.de/D/DC/DCM/dcm.htm?snr=54429&streamsnr=3
[2] http://gin.uibk.ac.at/gin/sachthema/gin.cfm?nr=11269
[3] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/glosse/2254/1.html
[4] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/1508/1.html
[5] http://www.zdnet.de/spiele/tests/199906/homm3/homm3-wf.html
[6] http://www.svz.de/vw3news/instances/f-svz.netjunk
[7] http://hexenkuss.de
[8] http://195.27.143.33/forum/cgi/forum.pl?id=3216
[9] http://onlinesucht.de
[10] http://onlinesucht.de/kontaktstellen.htm
[11] http://195.27.143.33/forum/cgi/forum.pl?id=2222

von Gerald Jörns, 02.08.1999, Verlag Heinz Heise, Hannover Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/5138/1.html
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