M 05.01 Risikogesellschaft: Kernaussagen von Ulrich Beck
 


An die Stelle bindender Traditionen tritt die Vorgabe, ein eigenes Leben zu organisieren. In traditionale Gesellschaften wurde man hineingeboren (wie etwa in Stand und Religion), für die neuen Vorgaben dagegen muss man selbst etwas tun, aktiv, findig und pfiffig werden, Ideen entwickeln, schneller, wendiger, kreativer sein, um sich in der Konkurrenz durchzusetzen - und dies nicht nur einmal, sondern dauernd, tagtäglich. Die einzelnen werden zu Akteuren, Konstrukteuren, Jongleuren, Inszenatoren ihrer Biographie, ihrer Identität, aber auch ihrer sozialen Bindungen und Netzwerke.

Heute werden die Menschen nicht aus ständischen oder religiösen Sicherheiten in die Welt der Industriegesellschaft entlassen, sondern aus der nationalstaatlichen Industriegesellschaft in die Turbulenzen der Weltrisikogesellschaft versetzt. Das, was früher als Klassenschicksal gemeinschaftlich verarbeitet wurde, müssen die Menschen heute als persönliches Schicksal, als individuelles Versagen, sich selbst zuschreiben und oft allein verkraften. Überlieferte Lebensrezepturen und Rollenvorbilder versagen. Zukunft kann nicht aus Herkunft abgeleitet werden. Die Lebensführung wird historisch vorbildlos. Eigenes und soziales Leben müssen - in Ehe, Elternschaft ebenso wie in Politik, Öffentlichkeit, Erwerbsarbeit und Industriebetrieben - neu aufeinander abgestimmt werden. Die Unruhe des Zeitalters hat auch darin ihren Grund, dass niemand weiß, ob und wie dies gelingt.

Das eigene Leben ist gar kein eigenes Leben. Es hängt zum Beispiel ab von Kindergartenöffnungszeiten, Verkehrsverbindungen, Stauzeiten, örtlichen Einkaufsmöglichkeiten, von Ausbildung, Arbeitsmarkt, Arbeitsrecht, Sozialstaat, von den Krisen der Wirtschaft. Manchmal muss nur die Oma, die die Kinder hütet, ausfallen, und die windigen Konstruktionen des eignen Lebens brechen in sich zusammen.

Der Fernsehzuschauer ist zugleich einsam und mit der Welt verkabelt. Die Welt bricht per Knopfdruck bei ihm ein. Alles Fremde verliert seine Fremdheit. Mindestens in dem Sinne, dass man davon schon einmal gehört, gesehen hat... Was sich im Inneren des eignen Lebens tut, hat sehr viel mit weltweiten Einflüssen, Herausforderungen, Moden oder der Abschirmung dagegen zu tun.

Quelle: Ulrich Beck, Wilhelm Vossenkuhl u.a., Eigenes Leben. Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben, München 1996, zitiert nach: PZ, März 1996, S. 8-9.
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