Stabilität und Wandel beim Aufwachsen in neuen Medienwelten
Zweifellos verändern die sogenannten neuen, interaktiven Medien unsere Gesellschaft, unsere gesamte Kultur. Zu diesen Medien gehören: als Herzstück das Internet mit seinem breiten Anwendungsspektrum, ebenfalls Intranets beispielsweise zwischen Universitäten, ferner CD-ROMs und DVDs mit interaktiven Elementen sowie insgesamt viele Varianten von multimedialen Computer-, Video-, Fernseh- und Telefonerweiterungen und -vernetzungen. Sie revolutionieren die traditionellen Massenmedien (etwa durch elektronisches Publishing, digitales Fernsehen, neue Werbeformen), die Wirtschaft (durch elektronische Produktion, elektronischen Handel, elektronisches Geld, Tele-Arbeit usw.), die Politik (durch neue Meinungsbildungs- und Partizipationsweisen), wirken sich auf den Umgang mit den konventionellen Medien, auf die Freizeitgestaltung und den Alltag insgesamt aus und greifen umfassend in Sozialisation, Erziehung und Bildung ein.
Letzteres ist Thema dieses Artikels: Wie wandelt sich unter dem Einfluss der neuen, digitalen Medien die Kultivierung der Menschen, speziell von Kindern und Jugendlichen, die von klein an in eine Welt mit diesen Medien hineinwachsen? Besonderes Interesse gilt hier der Abwägung zwischen Stabilität und Wandel. Denn so radikal, ja sogar bedrohlich diese neuen, machtvollen Medien und Kommunikationstechnologien auch empfunden werden mögen: sie treffen doch auf gewachsene Strukturen mit Beharrungsvermögen. Die Überlegungen zu den Auswirkungen der neuen Medien zwischen Stabilität und Wandel werden in fünf Thesen dargestellt.
These 1: Mensch bleibt Mensch auch mit neuen Medien
Menschen sind im Kein relativ stabil und wandlungsresistent. Die menschliche
'Natur' setzt dem Wandel Grenzen. Unsere körperliche und geistige Ausstattung
ist seit mehr als 30.000 Jahren, als die Höhlenbilder von Altamira und Lascaux
mit Stieren, Wildpferden, Hirschen und speerbewaffneten Jägern gemalt wurden,
im wesentlichen unverändert. Damals streiften die Menschen als Jäger und Sammler
umher, Produkte der Evolution und für das Überleben gerüstet; Teil einer überwältigenden
Natur, die sie aber trotzdem schon -wie die Abbildungen zeigen - zum Beobachtungsobjekt
machten; mit Sprache begabt, ebenfalls mit Bildfähigkeit, neugierig, sinnlich,
gleichermaßen gefühls- und verstandesorientiert; sozial in kleinen Gruppen in
physischer Nähe miteinander lebend.
Die neuen Medien entsprechen in mancher Hinsicht diesen Urbedingungen - was
sie attraktiv macht: Es werden Sprache und Bilder eingesetzt, man kann umherschweifen
("surfen") und Neues entdecken, in Spielwelten jagen und Informationen sammeln,
Gefühlssensationen durchkosten sowie Verstandesfähigkeiten anwenden. Aber sie
vermögen doch nicht, die menschlichen Basisbedürfnisse zu stillen - was ihre
Attraktivität einschränkt: Bedürfnisse nach zwischenmenschlicher, physischer
Nähe, Wärme, Berührung, Hautkontakt, Aug-in-Auge-Momenten, Riechen, Schmecken;
und ebenso nach Naturerleben, weitem Horizont, Himmel, Wind, Pflanzen, Tieren,
dem Duft der Erde. Da diese Bedürfnisse zum evolutionär verankerten Programm
des Menschen gehören, haben die neuen Medien nicht die Macht, Menschen zu einsamen
Monaden vor Bildschirmen zu pervertieren. Das heißt, auch in Zukunft bleiben
die primären sozialen Beziehungen, die physisch realen Familien oder familienähnlichen
Gruppen des Gemeinschaftslebens dominant und prägend. Und die Schule mit dem
lebendigen Zusammensein von realen Lehrern und realen Mitschülern wird ebenfalls
nicht abgelöst. Neue Medien mit neuen reizvollen Lehr- und Lernformen treten
lediglich ergänzend hinzu.
These 2: Die 'alten' Medien und Kommunikationsformen steuern die 'neuen', nicht umgekehrt
Die neuen Medien treffen nicht auf eine Tabula Rasa, weder was die menschlichen
Anlagen (siehe These 1), noch was die menschliche Kultur, Geschichte und schon
existierende Medien betrifft. Immer bedurfte Kommunikation eines Mediums. Vor-
und Frühmenschen hatten zunächst allein nonverbale Verständigungsmittel. Als
die Evolution die Sprache 'erfand', ging die nonverbale Kommunikation nicht
etwa unter, im Gegenteil: die bewährte, ältere Form wurde zur Aufsichtsinstanz
über die neue befördert. Denn bis heute steuern nonverbale Signale unsere Gespräche;
und im Zweifelsfall glauben wir dem nonverbalen Ausdrucksverhalten eines Menschen
mehr als seinen verbalen Aussagen. Diese Regel, dass der jeweils ältere Kommunikationsmodus
eine Filter- und Regelungsinstanz für den jeweils neueren bildet, lässt sich
durch die gesamte Evolution der Kommunikationsformen verfolgen. So steuert die
ältere, interpersonale Kommunikation die Verbreitung, den Einsatz und die Bewertung
zunächst von Schrift, dann von Büchern und schließlich von modernen Massenmedien.
Für die heutige und künftige Sozialisation von Kindern und Jugendlichen heißt
das: Es ist primär die Kommunikation mit Eltern, Spielkameraden, Lehrern und
dem gesamten direkten Umfeld - sogar in einem gewissen Maß auch die mit den
'älteren' Massenmedien wie Zeitschriften und Fernsehen -, durch die Zugang,
Umgangsstil und Werturteile für neue Medien kanalisiert werden. Die 'älteren'
Instanzen geben die Bedingungen vor, unter denen die 'neuen' ihre positiven
Möglichkeiten entfalten können. Wenn man sich das einmal klar macht, dürfte
den neuen Medien ein großer Teil ihrer Bedrohlichkeit genommen sein.
These 3: Neue Medien korrigieren Relikte aus dem Industriezeitalter: Autoritäre Erwachsenen -Kind- Beziehungen, Lebensrhythmus nach Stechuhr, Schule hinter Schulmauern
Im Umgang mit den neuen, interaktiven Medien erschließen sich Kinder und Jugendliche
sowohl eigene Kompetenzen als auch eigene Informationsinhalte, die es Erwachsenen
- Eltern wie Lehrern - schwer machen, auf formale Autorität zu pochen. Ein Effekt
ist die Abflachung von hierarchischem Gefälle zwischen Älteren und Jüngeren.
Lehrer, die kraft ihres Amtes vom Katheder herab monologisieren und dozieren,
können sich nicht mehr halten. Der gesamte Umgangsstil wird offener, 'interaktiver';
auch individueller auf die Lerngeschwindigkeit und das Verstehen pro Schüler
zuschneidbar.
Hinzukommen dürfte demnächst - zumindest in höheren Schulklassen - ein Aufweichen
der fest vorgegebenen Zeitstrukturen (nach Schulklingel) und Ortszwänge (wer
in der Schule nicht anwesend ist , 'fehlt' und versäumt den Unterricht). Im
Arbeitsleben nehmen Tele-Arbeit zeitweise von zu Hause aus, Tele-Teamwork, ergebnisorientierte
Leistungsnachweise anstelle von Arbeitszeit- und Anwesenheitskontrollen und
ähnliche freiere Arbeitsformen zu, wodurch die Arbeitserträge steigen. Entsprechende
Möglichkeiten werden sich wahrscheinlich in den Schulen ausbreiten. Schon jetzt
gibt es Versuche in dieser Richtung, so z.B. in einer Schule in Tilburg, Holland,
wo die Schüler an einem Tag in der Woche von zu Hause aus Tele-Lernen praktizieren.
Es ist zu vermuten, dass dadurch in den Schulen Lernmotivation, Lernerträge
und der praktische Lernnutzen steigen.
These 4: Das Schema der Welterschließung ändert sich: Linearität durch das Buch verliert, Vernetzung durch neue Medien gewinnt, abgeschlossene Werke und abgemessene Lehrstoffmengen verlieren, offene Texte und variierte Lehrinhalte gewinnen an Bedeutung
Nach McLuhan ist die" 'Botschaft' jedes Mediums [ ... ] die Veränderung des
Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt". In
der "Gutenberg-Galaxis" wurden die Menschen durch das Medium Buch auf Linearität
und sequentielles Nacheinander trainiert. Ein Buch - Roman, Lehrbuch oder Fachbuch
- ist i.d.R. ein 'geschlossenes Werk', das auf der ersten Seite begonnen, der
letzten beendet und dazwischen Zeile um Zeile, Seite um Seite gelesen wird.
So muss man vorgehen, um den Sinn zu erfassen.
Die neuen Medien dagegen haben eine völlig andere Architektur und üben daher
bei ihren Nutzern einen anderen Modus ein, wie man sich die Welt erschließt.
An die Stelle von Linearität und Nacheinander ist die Vernetzung, die Gleichzeitigkeit
getreten. Das WorldWideWeb ist grenzenlos offen und fordert durch Links ständig
dazu auf, in alle Richtungen zu schweifen, neue Informationspfade einzuschlagen,
vorwärts, seitwärts, rückwärts zu streifen. Für den Wissenserwerb stehen sämtliche
Bewegungsrichtungen permanent offen. Nicht nur, dass Sinn trotzdem erhalten
bleibt: es ist sogar Sinn des WWW, so dezentral zu verfahren; sinnlos, es linear
lesen zu wollen. Das hat für die Bildung derjenigen, die Mithilfe dieser vernetzten
Medien kultiviert werden, mindestens zwei Konsequenzen. Erstens den Lehrstoff
i.S. von Inhalten betreffend: Von der Vorstellung, das in der Schule
zu erwerbende Bildungsgut sei eine überschaubare, abgemessene Menge, müssen
wir uns verabschieden. Ein Kern wird bleiben und durch Lehrpläne geregelt; aber
in dessen Umgebung bieten sich unendlich viele Lernfelder, die sicher von Schule
zu Schule, Lehrer zu Lehrer und sogar Schüler zu Schüler unterschiedlich ausgefüllt
werden.
Eine zweite Folge betrifft die Form der Lehrstoffvermittlung: Es dürfte
immer schwieriger werden, Kindern und Jugendlichen das Lesen von Büchern bzw.
langen Texten beizubringen. Wohlgemerkt: Hier sind Schwierigkeiten gegenüber
Büchern, nicht Schwierigkeiten beim Lesen gemeint (dazu siehe These 5). Den
Kindern Lehrinhalte aus der Geschichte, der Physik, der Literatur zu
vermitteln, macht immer Mühe - das war zu allen Zeiten gleich. Aber wenn die
Inhalte auch künftig noch in Form von Büchern oder in umfangreichen Textblöcken
vermittelt werden - also einer Form, die aufgrund der oben skizzierten Bedingungen
nicht mehr dem eingeübten Modus dieser Generation entspricht -, verdoppeln sich
die Probleme. Es ist daher unerlässlich, neue, adäquate Vermittlungsformen zu
finden. Auf gedrucktes Material wird man nicht verzichten können oder wollen;
aber geschlossene Texte müssen geöffnet, aufgebrochen, durch Querverweise angereichert,
durch Visualisierungen ergänzt und sogar in veränderter Reihenfolge lesbar gemacht
werden, damit sich die Lehrinhalte den Schülern relativ leicht erschließen.
Das Durcharbeiten ganzer Bücher von vorne bis hinten wird einzelnen Spezialdisziplinen
(vor allem dem Deutschunterricht) vorbehalten bleiben.
These 5: Lesen und Schreiben als fundamentale Kulturtechniken bleiben erhalten, werden sogar gestärkt - trotz der Zunahme von Bildern in den neuen Medien
Die neuen Medien gelten als bildlastig. Das mag im Vergleich mit Büchern (wie in These 4 behandelt) der Fall sein, aber keineswegs im Vergleich mit dem populärsten Massenmedium Fernsehen, denn das Fernsehen bringt fast ausschließlich Bilder auf den Bildschirm, während die neuen Medien i.d.R. Bilder und geschriebene Texte einsetzen. Lesen und Schreiben sind und bleiben unsere fundamentalen Kulturtechniken. Allerdings ist Lesen nicht mit dem Lesen dicker Bücher und langer Texte gleichzusetzen. Im Alltag beziehen sich diese Tätigkeiten überwiegend auf knappe Sequenzen: auf Straßen-, Namens-, Waren-, Preisschilder, Bahn-, Bus-, Flugzeugstationen, Öffnungszeiten, Telefonbücher, Gebrauchsanweisungen, Notizen, Einkaufszettel, Grußkarten usw. Unser Alphabet ist so abstrakt, dass sich aus den relativ wenigen Buchstaben Texte aller Art - von einfach bis komplex - herstellen lassen. Bei genauer Überlegung muss man zugeben, dass der Schritt so groß nicht ist vom Alphabet zum Computercode der neuen digitalen Medien, der sogar mit nur zwei Werten (0 und 1) multimediale Inhalte in unendlicher Vielzahl und Varianz ausdrücken kann. Buch und neue Medien sind Gegensätze, aber Schrift und neue Medien sind verwandt. Nicht zufällig werden die Computer von einer Tastatur mit Buchstaben aus bedient. Es gibt zwar Computerspiele, die nur Bilder verwenden und allein mit dem Joystick zu steuern sind; ferner sind künftig mehr Spracherkennungsprogramme zu erwarten, durch die sich schriftliche Befehle umgehen lassen. Aber die gesamte Anwendungsbreite von Computern bleibt sicher grundsätzlich buchstaben- und zahlenbasiert. Und das stellt für Kinder ein großes Motivationspotential dar, Lesen und Schreiben zu lernen; für Jugendliche, die englische Sprache beherrschen zu wollen.