M 05.06 Steinzeitmenschen Online
 


Stabilität und Wandel beim Aufwachsen in neuen Medienwelten

Zweifellos verändern die sogenannten neuen, interaktiven Medien unsere Gesellschaft, unsere gesamte Kultur. Zu diesen Medien gehören: als Herzstück das Internet mit seinem breiten Anwendungsspektrum, ebenfalls Intranets beispielsweise zwischen Universitäten, ferner CD-ROMs und DVDs mit interaktiven Elementen sowie insgesamt viele Varianten von multimedialen Computer-, Video-, Fernseh- und Telefonerweiterungen und -vernetzungen. Sie revolutionieren die traditionellen Massenmedien (etwa durch elektronisches Publishing, digitales Fernsehen, neue Werbeformen), die Wirtschaft (durch elektronische Produktion, elektronischen Handel, elektronisches Geld, Tele-Arbeit usw.), die Politik (durch neue Meinungsbildungs- und Partizipationsweisen), wirken sich auf den Umgang mit den konventionellen Medien, auf die Freizeitgestaltung und den Alltag insgesamt aus und greifen umfassend in Sozialisation, Erziehung und Bildung ein.

Letzteres ist Thema dieses Artikels: Wie wandelt sich unter dem Einfluss der neuen, digitalen Medien die Kultivierung der Menschen, speziell von Kindern und Jugendlichen, die von klein an in eine Welt mit diesen Medien hineinwachsen? Besonderes Interesse gilt hier der Abwägung zwischen Stabilität und Wandel. Denn so radikal, ja sogar bedrohlich diese neuen, machtvollen Medien und Kommunikationstechnologien auch empfunden werden mögen: sie treffen doch auf gewachsene Strukturen mit Beharrungsvermögen. Die Überlegungen zu den Auswirkungen der neuen Medien zwischen Stabilität und Wandel werden in fünf Thesen dargestellt.

These 1: Mensch bleibt Mensch auch mit neuen Medien

Menschen sind im Kein relativ stabil und wandlungsresistent. Die menschliche 'Natur' setzt dem Wandel Grenzen. Unsere körperliche und geistige Ausstattung ist seit mehr als 30.000 Jahren, als die Höhlenbilder von Altamira und Lascaux mit Stieren, Wildpferden, Hirschen und speerbewaffneten Jägern gemalt wurden, im wesentlichen unverändert. Damals streiften die Menschen als Jäger und Sammler umher, Produkte der Evolution und für das Überleben gerüstet; Teil einer überwältigenden Natur, die sie aber trotzdem schon -wie die Abbildungen zeigen - zum Beobachtungsobjekt machten; mit Sprache begabt, ebenfalls mit Bildfähigkeit, neugierig, sinnlich, gleichermaßen gefühls- und verstandesorientiert; sozial in kleinen Gruppen in physischer Nähe miteinander lebend.
Die neuen Medien entsprechen in mancher Hinsicht diesen Urbedingungen - was sie attraktiv macht: Es werden Sprache und Bilder eingesetzt, man kann umherschweifen ("surfen") und Neues entdecken, in Spielwelten jagen und Informationen sammeln, Gefühlssensationen durchkosten sowie Verstandesfähigkeiten anwenden. Aber sie vermögen doch nicht, die menschlichen Basisbedürfnisse zu stillen - was ihre Attraktivität einschränkt: Bedürfnisse nach zwischenmenschlicher, physischer Nähe, Wärme, Berührung, Hautkontakt, Aug-in-Auge-Momenten, Riechen, Schmecken; und ebenso nach Naturerleben, weitem Horizont, Himmel, Wind, Pflanzen, Tieren, dem Duft der Erde. Da diese Bedürfnisse zum evolutionär verankerten Programm des Menschen gehören, haben die neuen Medien nicht die Macht, Menschen zu einsamen Monaden vor Bildschirmen zu pervertieren. Das heißt, auch in Zukunft bleiben die primären sozialen Beziehungen, die physisch realen Familien oder familienähnlichen Gruppen des Gemeinschaftslebens dominant und prägend. Und die Schule mit dem lebendigen Zusammensein von realen Lehrern und realen Mitschülern wird ebenfalls nicht abgelöst. Neue Medien mit neuen reizvollen Lehr- und Lernformen treten lediglich ergänzend hinzu.

These 2: Die 'alten' Medien und Kommunikationsformen steuern die 'neuen', nicht umgekehrt

Die neuen Medien treffen nicht auf eine Tabula Rasa, weder was die menschlichen Anlagen (siehe These 1), noch was die menschliche Kultur, Geschichte und schon existierende Medien betrifft. Immer bedurfte Kommunikation eines Mediums. Vor- und Frühmenschen hatten zunächst allein nonverbale Verständigungsmittel. Als die Evolution die Sprache 'erfand', ging die nonverbale Kommunikation nicht etwa unter, im Gegenteil: die bewährte, ältere Form wurde zur Aufsichtsinstanz über die neue befördert. Denn bis heute steuern nonverbale Signale unsere Gespräche; und im Zweifelsfall glauben wir dem nonverbalen Ausdrucksverhalten eines Menschen mehr als seinen verbalen Aussagen. Diese Regel, dass der jeweils ältere Kommunikationsmodus eine Filter- und Regelungsinstanz für den jeweils neueren bildet, lässt sich durch die gesamte Evolution der Kommunikationsformen verfolgen. So steuert die ältere, interpersonale Kommunikation die Verbreitung, den Einsatz und die Bewertung zunächst von Schrift, dann von Büchern und schließlich von modernen Massenmedien.
Für die heutige und künftige Sozialisation von Kindern und Jugendlichen heißt das: Es ist primär die Kommunikation mit Eltern, Spielkameraden, Lehrern und dem gesamten direkten Umfeld - sogar in einem gewissen Maß auch die mit den 'älteren' Massenmedien wie Zeitschriften und Fernsehen -, durch die Zugang, Umgangsstil und Werturteile für neue Medien kanalisiert werden. Die 'älteren' Instanzen geben die Bedingungen vor, unter denen die 'neuen' ihre positiven Möglichkeiten entfalten können. Wenn man sich das einmal klar macht, dürfte den neuen Medien ein großer Teil ihrer Bedrohlichkeit genommen sein.

These 3: Neue Medien korrigieren Relikte aus dem Industriezeitalter: Autoritäre Erwachsenen -Kind- Beziehungen, Lebensrhythmus nach Stechuhr, Schule hinter Schulmauern

Im Umgang mit den neuen, interaktiven Medien erschließen sich Kinder und Jugendliche sowohl eigene Kompetenzen als auch eigene Informationsinhalte, die es Erwachsenen - Eltern wie Lehrern - schwer machen, auf formale Autorität zu pochen. Ein Effekt ist die Abflachung von hierarchischem Gefälle zwischen Älteren und Jüngeren. Lehrer, die kraft ihres Amtes vom Katheder herab monologisieren und dozieren, können sich nicht mehr halten. Der gesamte Umgangsstil wird offener, 'interaktiver'; auch individueller auf die Lerngeschwindigkeit und das Verstehen pro Schüler zuschneidbar.
Hinzukommen dürfte demnächst - zumindest in höheren Schulklassen - ein Aufweichen der fest vorgegebenen Zeitstrukturen (nach Schulklingel) und Ortszwänge (wer in der Schule nicht anwesend ist , 'fehlt' und versäumt den Unterricht). Im Arbeitsleben nehmen Tele-Arbeit zeitweise von zu Hause aus, Tele-Teamwork, ergebnisorientierte Leistungsnachweise anstelle von Arbeitszeit- und Anwesenheitskontrollen und ähnliche freiere Arbeitsformen zu, wodurch die Arbeitserträge steigen. Entsprechende Möglichkeiten werden sich wahrscheinlich in den Schulen ausbreiten. Schon jetzt gibt es Versuche in dieser Richtung, so z.B. in einer Schule in Tilburg, Holland, wo die Schüler an einem Tag in der Woche von zu Hause aus Tele-Lernen praktizieren. Es ist zu vermuten, dass dadurch in den Schulen Lernmotivation, Lernerträge und der praktische Lernnutzen steigen.

These 4: Das Schema der Welterschließung ändert sich: Linearität durch das Buch verliert, Vernetzung durch neue Medien gewinnt, abgeschlossene Werke und abgemessene Lehrstoffmengen verlieren, offene Texte und variierte Lehrinhalte gewinnen an Bedeutung

Nach McLuhan ist die" 'Botschaft' jedes Mediums [ ... ] die Veränderung des Maßstabs, Tempos oder Schemas, die es der Situation des Menschen bringt". In der "Gutenberg-Galaxis" wurden die Menschen durch das Medium Buch auf Linearität und sequentielles Nacheinander trainiert. Ein Buch - Roman, Lehrbuch oder Fachbuch - ist i.d.R. ein 'geschlossenes Werk', das auf der ersten Seite begonnen, der letzten beendet und dazwischen Zeile um Zeile, Seite um Seite gelesen wird. So muss man vorgehen, um den Sinn zu erfassen.
Die neuen Medien dagegen haben eine völlig andere Architektur und üben daher bei ihren Nutzern einen anderen Modus ein, wie man sich die Welt erschließt. An die Stelle von Linearität und Nacheinander ist die Vernetzung, die Gleichzeitigkeit getreten. Das WorldWideWeb ist grenzenlos offen und fordert durch Links ständig dazu auf, in alle Richtungen zu schweifen, neue Informationspfade einzuschlagen, vorwärts, seitwärts, rückwärts zu streifen. Für den Wissenserwerb stehen sämtliche Bewegungsrichtungen permanent offen. Nicht nur, dass Sinn trotzdem erhalten bleibt: es ist sogar Sinn des WWW, so dezentral zu verfahren; sinnlos, es linear lesen zu wollen. Das hat für die Bildung derjenigen, die Mithilfe dieser vernetzten Medien kultiviert werden, mindestens zwei Konsequenzen. Erstens den Lehrstoff i.S. von Inhalten betreffend: Von der Vorstellung, das in der Schule zu erwerbende Bildungsgut sei eine überschaubare, abgemessene Menge, müssen wir uns verabschieden. Ein Kern wird bleiben und durch Lehrpläne geregelt; aber in dessen Umgebung bieten sich unendlich viele Lernfelder, die sicher von Schule zu Schule, Lehrer zu Lehrer und sogar Schüler zu Schüler unterschiedlich ausgefüllt werden.
Eine zweite Folge betrifft die Form der Lehrstoffvermittlung: Es dürfte immer schwieriger werden, Kindern und Jugendlichen das Lesen von Büchern bzw. langen Texten beizubringen. Wohlgemerkt: Hier sind Schwierigkeiten gegenüber Büchern, nicht Schwierigkeiten beim Lesen gemeint (dazu siehe These 5). Den Kindern Lehrinhalte aus der Geschichte, der Physik, der Literatur zu vermitteln, macht immer Mühe - das war zu allen Zeiten gleich. Aber wenn die Inhalte auch künftig noch in Form von Büchern oder in umfangreichen Textblöcken vermittelt werden - also einer Form, die aufgrund der oben skizzierten Bedingungen nicht mehr dem eingeübten Modus dieser Generation entspricht -, verdoppeln sich die Probleme. Es ist daher unerlässlich, neue, adäquate Vermittlungsformen zu finden. Auf gedrucktes Material wird man nicht verzichten können oder wollen; aber geschlossene Texte müssen geöffnet, aufgebrochen, durch Querverweise angereichert, durch Visualisierungen ergänzt und sogar in veränderter Reihenfolge lesbar gemacht werden, damit sich die Lehrinhalte den Schülern relativ leicht erschließen. Das Durcharbeiten ganzer Bücher von vorne bis hinten wird einzelnen Spezialdisziplinen (vor allem dem Deutschunterricht) vorbehalten bleiben.

These 5: Lesen und Schreiben als fundamentale Kulturtechniken bleiben erhalten, werden sogar gestärkt - trotz der Zunahme von Bildern in den neuen Medien

Die neuen Medien gelten als bildlastig. Das mag im Vergleich mit Büchern (wie in These 4 behandelt) der Fall sein, aber keineswegs im Vergleich mit dem populärsten Massenmedium Fernsehen, denn das Fernsehen bringt fast ausschließlich Bilder auf den Bildschirm, während die neuen Medien i.d.R. Bilder und geschriebene Texte einsetzen. Lesen und Schreiben sind und bleiben unsere fundamentalen Kulturtechniken. Allerdings ist Lesen nicht mit dem Lesen dicker Bücher und langer Texte gleichzusetzen. Im Alltag beziehen sich diese Tätigkeiten überwiegend auf knappe Sequenzen: auf Straßen-, Namens-, Waren-, Preisschilder, Bahn-, Bus-, Flugzeugstationen, Öffnungszeiten, Telefonbücher, Gebrauchsanweisungen, Notizen, Einkaufszettel, Grußkarten usw. Unser Alphabet ist so abstrakt, dass sich aus den relativ wenigen Buchstaben Texte aller Art - von einfach bis komplex - herstellen lassen. Bei genauer Überlegung muss man zugeben, dass der Schritt so groß nicht ist vom Alphabet zum Computercode der neuen digitalen Medien, der sogar mit nur zwei Werten (0 und 1) multimediale Inhalte in unendlicher Vielzahl und Varianz ausdrücken kann. Buch und neue Medien sind Gegensätze, aber Schrift und neue Medien sind verwandt. Nicht zufällig werden die Computer von einer Tastatur mit Buchstaben aus bedient. Es gibt zwar Computerspiele, die nur Bilder verwenden und allein mit dem Joystick zu steuern sind; ferner sind künftig mehr Spracherkennungsprogramme zu erwarten, durch die sich schriftliche Befehle umgehen lassen. Aber die gesamte Anwendungsbreite von Computern bleibt sicher grundsätzlich buchstaben- und zahlenbasiert. Und das stellt für Kinder ein großes Motivationspotential dar, Lesen und Schreiben zu lernen; für Jugendliche, die englische Sprache beherrschen zu wollen.

Aus: Margot Berghaus: Steinzeitmenschen Online. Stabilität und Wandel beim Aufwachsen in neuen Medienwelten, in: medien + erziehung 1/2000, S. 7 - 9.
Prof. Dr. Margot Berghaus lehrt Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim.
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