M 05.07 Interview: Julian Nida-Rümelin
 


"Die durch Medien veränderte Kultur ist geistig anregend"

merz: Herr Nida-Rümelin, Sie teilen die Nutzer von neuen Medien in Euphoriker und Skeptiker ein. Wo ordnen Sie sich selbst zu?

Nida-Rümelin: Ich glaube, ich habe sie sogar in Euphoriker und Apokalyptiker eingeteilt, also noch dramatischer. Im Grunde gehen Euphoriker und Apokalyptiker vom gleichen Irrtum aus. Die Euphoriker meinen, mit den neuen Medien bricht ein völlig neues Zeitalter der Kultur an. Wir schaffen so etwas wie ein global village mit positiven optimistischen Visionen. Alte anarchistische Ideale tauchen wieder auf, projiziert auf das Internet, das frei von kommerziellem Einfluss ist, die ganze Vielfalt der Basiskultur widerspiegelt und in dem die Kulturgrenzen der Nationen und Regionen überwunden sind. Man glaubt, dass es möglich ist, so etwas wie Unmittelbarkeit herzustellen, da Information nicht mehr durch von Konzernen kontrollierte Medien vermittelt wird, wie z.B. im Fernsehen oder im Zeitungswesen. Mit den neuen Medien, denkt man, wird all dies unterlaufen. Man unterläuft gewissermaßen den Kapitalismus durch ein demokratisches Instrument der Kommunikation. Die Euphorie, die damit einhergeht, halte ich schon deswegen für ungerechtfertigt, weil, und das ist jetzt bereits deutlich erkennbar, auch das Netz sehr rasch unter kommerziellen Einfluss gerät. Das wird weiter zunehmen und man muss fairer Weise sagen, dass der Zustand, in dem sich das Internet in den ersten Jahren präsentiert hat, mit Ausnahme von bestimmten Bereichen, so nicht zukunftsfähig war. Es musste eine gewisse Ordnung geschaffen werden, und dass da kommerzielle Anbieter Ordnung schaffen und Orientierung bieten, lag auf der Hand. Die Idee, jeder kommuniziert mit jedem, ist allein schon quantitativ nicht zu realisieren. Schließlich sind Chatrooms keine Einrichtungen der höheren Erkenntnis. Chatrooms sind zwar für manche vergnüglich, aber sicher kein großes Kulturereignis. Die Apokalyptiker gehen andererseits von einem Kulturbruch durch die neuen Medien aus. Sie beklagen vor allem den Abschied von der Schriftkultur und alles was damit zusammenhängt, wie Rationalität, Begründbarkeit oder auch Distanz gegenüber dem vor allem durch Bilder vermittelten Kommerz. Indizien dafür, dass die Fähigkeit zu Lesen und zu Schreiben zurückgeht, gibt es. Dies belegen verschiedene Untersuchungen. Die Konzentrationsfähigkeit bei Jüngeren ist ebenfalls deutlich zurückgegangen. Längere Vorträge hält im Grunde kaum jemand mehr, der jünger als 30 ist, durch. Aber auch hier halte ich diese apokalyptische Vision für maßlos überzeichnet, schon deswegen, weil ich nicht glaube, dass mit den neuen Medien und ihren sogenannten virtuellen Möglichkeiten wirklich das Neue in die Welt gekommen ist.

merz: Aber Entwicklungen müssen doch feststellbar sein?

Nida-Rümelin: Man denke sich z.B., die technische Entwicklung wäre umgedreht verlaufen, erst Internet und dann Telefon. Dann würde man sagen, bisher haben wir nur über Buchstaben sehr notdürftig und sehr verkürzt kommuniziert - so schnell kann kein Mensch tippen, wie man denkt - und jetzt haben wir ein völlig neues Medium, nämlich das der Kommunikation über den ganzen Weltball und können mit jeder Person Ohr zu Ohr jederzeit kommunizieren. Das ist nun wirklich ein Kulturbruch, der die Kulturgrenzen überwinden wird. Aus diesem Gedankenexperiment ergibt sich die Folgerung, die Dinge nicht zu überschätzen. Dennoch bin ich der Meinung, dass man sich nicht mit der Haltung zufrieden geben kann, das ist alles nichts Neues, die Medien verändern sich seit der Antike. Die berittenen Boten sind aus der Mode gekommen und jetzt gibt es halt Internet. Natürlich hat die Mediensituation einen deutlichen Einfluss auf die Sozialisation, um diesen problematischen Begriff zu verwenden, und auf die kulturelle Verfasstheit unserer Gesellschaft. Das sind ziemlich langfristige Entwicklungen. Ich glaube nicht, dass es die tiefen Brüche gibt und ich glaube nicht, dass die Schriftkultur verschwinden wird. Nichts deutet darauf hin. Es deutet vielmehr alles darauf hin, dass auch in Zukunft das Buch eine wichtige Rolle spielen wird. Interessanterweise sind gerade Internetnutzer auch begeisterte Leser. Da mit erfolgt ein neues Austarieren der Bilderkultur und der hauptsächlich schriftgestützten Kultur. Diese beiden Kulturen sind nicht so separat und entgegengesetzt, wie es zunächst scheint. Es gibt Untersuchungen, die zeigen, dass Jugendliche heute deutlich intelligenter sind als ihre Vorläufergenerationen. Wenn man die gleichen Intelligenztests verwenden würde, wie in den 50er Jahren, dann hätten wir heute lauter Hochbegabte. Da die Intelligenztests immer wieder angeglichen werden, erscheint das jedoch nicht in der Statistik. Das ist nicht ganz unproblematisch, da damit ein Phänomen durch die Testmethode nivelliert wird. All das deutet darauf hin, dass die durch Medien veränderte Kultur (die Verstädterung spielt vielleicht auch noch eine Rolle) bei der Entwicklung von Intelligenz eine ganz zentrale Rolle spielt. Sie ist offenbar geistig anregend und fördert das schnelle sich Einstellen auf neue Situationen, die Kombinations- und Assoziationsfähigkeit bei Jugendlichen. Und diese Fähigkeiten, die dabei entstehen, beinhalten große Chancen.

merz: Damit wären wir bei der Ausgangsfrage unseres Gesprächs. Sie haben ja auch von Einflüssen der Medien auf die Sozialisation gesprochen. Wie stellen Sie sich angesichts der Medienentwicklungen das zukünftige Aufwachsen in Medienwelten vor?

Nida-Rümelin: Im Augenblick haben wir ja die missliche Situation, dass die lehrende Generation, auch aufgrund des nicht erfolgten Generationswechsels an den Schulen und der damit einhergehenden Überalterung der Lehrerkollegien, dieser durch die neue Medien, aber auch durch die Kunst, durch die Videoclip- und Popwelt geprägten Lebenswelt ziemlich fern steht. Die Lehrenden sind in der Regel bestenfalls Klippschüler im Bereich neuer Medien. Das rückt das Verhältnis der Generationen vielleicht auch in ganz erfreulicher Weise etwas zurecht. Während früher die Jugendlichen vor allem im Sport besser waren als ihre Lehrer, sind sie es heute in weiten Bereichen des Computers. Damit entwickelt sich im Grunde ein Kulturbereich der Gesellschaft abseits der Bildungsinstitutionen.

merz: Muss sich alles ändern, oder sind nur graduelle Unterschiede zu konstatieren, die nicht so bedeutend sind?

Nida-Rümelin: Ich würde sagen, es sind nur graduelle Unterschiede, aber im Laufe der Jahre summieren sich kleine zu großen. Wenn der Hiatus zwischen erstarrtem Bildungssystem und kultureller Veränderung zu groß wird, dann bleibt am Ende ein überaltertes und nur noch belächeltes Bildungssystem übrig, das die Jungen nicht mehr wirklich fasziniert. Damit Sie mich jedoch nicht missverstehen, ich finde, dass sich die Inhalte, die an den Schulen vermittelt werden, nicht immer nach der neuesten Mode ausrichten sollen. Es gibt kanonische Bestandteile, die eine Kultur zusammenhalten, weil sie über die Generationen hinweg vermitteln, und weil sie auch eine gewisse Unabhängigkeit von Zeitgeistentwicklungen haben. Problematisch ist jedoch das Nichtwahrnehmen oder Abwehren neuer Entwicklungen, das hat seinen Preis.

merz: Welchen Einfluss werden die Medien auf unsere Wahrnehmung haben?

Nida-Rümelin: Nach meinem Eindruck werden vor allem die ästhetischen Ansprüche zunehmen. Man sieht das zum Beispiel daran, dass kommerzielle Werbespots, die sich an die Jüngeren wenden und bei MTV oder VIVA laufen, in der Regel sehr hohe ästhetische Qualität haben. Die junge Generation ist sensibilisiert im Umgang mit diesen Bildern und hat die Fähigkeit, schnelle Bildfolgen zu erfassen und Zusammenhänge herzustellen. Diese Fähigkeit muss man anerkennen. Ich glaube, dass hier das Bildungswesen und die Kulturpolitik insgesamt herausgefordert sind. Es gibt allerdings auch noch einen grundsätzlicheren Aspekt. Ich weiß nicht, ob Sie den auch im Auge haben, wenn Sie sagen "Veränderungen durch Wahrnehmung". Begleitend mit den neuen Medien tauchen im Grunde ziemlich alte abgegriffene Theorien, die es früher auch schon gab, wieder auf, die extrem idealistisch, manche sogar solipsistisch sind. Letztendlich laufen sie auf einen Antirealismus hinaus. Sie bestreiten, dass es eine Realität gibt, es somit nur erfundene Welten gibt, Stichwort"Radikaler Konstruktivismus". Nun wird so getan, dass mit den neuen Medien dies alles endlich bewiesen ist. Das ist ziemlich abwegig. Diese Diskussion wir in der Erkenntnistheorie seit Jahrhunderten geführt und es gab diese Position schon in der Antike. Immanuel Kant hat schon sehr klar die Rolle des Apriorischen für unsere Erkenntnis beschrieben. Wir haben nicht einfach Wahrnehmungen, die wir irgendwie systematisieren, sondern wir konstruieren immer schon Realität. Also wenn von Konstruktivismus die Rede ist, dann ist er vernünftigerweise kantisch. Die Gefahr, die dieser Diskurs in sich birgt, ist, dass er ideologisch missbraucht wird. Die mögliche praktische Konsequenz für die Bildungsinstitutionen könnte sein, keinen Zwang mehr zu einer rationalen Begründung von Überzeugungen, zu einer objektiven Erfassung von Sachverhalten zu erkennen. D.h. die, Anything-goes-Ideologie, die damit einhergeht, nach der sich jeder seine Welt erfindet, ist problematisch. Allein schon die Rede von virtueller Kommunikation ist eigentlich unverständlich. Warum soll ein E-mail-Brief virtuell sein, während ein schreibmaschinengeschriebener Brief nicht virtuell ist. Da gibt es keinen Unterschied, es wird nur ein unterschiedliches Medium verwendet und da ist nicht das eine virtuell und das andere real. Es sind Mittel, mit denen man bestimmte Absichten und Überzeugungen einer anderen Person mitteilt. Die Person kann damit rekonstruieren, was die Person, die ihr geschrieben hat, ob per E-mail oder Briefpost, mit der Schreibmaschine oder mit der Hand, sagen wollte. Damit Kommunikation funktioniert, müssen beide, Adressat wie Sender, über ein Großteil gemeinsamer Überzeugungen bezüglich der Verfassung dieser Welt verfügen. Wenn sie die nicht haben, gibt es keine Kommunikation. Kommunikation setzt somit voraus, dass wir so etwas postulieren wie gemeinsame Realität mit Grundannahmen, die nicht einfach zur Disposition stehen.

merz: Was halten Sie von Ansichten, die behaupten, dass Menschen in Zukunft in künstlichen Paradiesen der elektronischen Medien oder wie im Film "Matrix" in Scheinwelten aufwachsen und von der eigentlichen Welt nichts mehr mitbekommen?

Nida-Rümelin: Ich glaube nicht, dass der Weg dorthin geht. Wenn Sie sich einmal die erste Fernsehgeneration vor Augen führen, die setzte sich kollektiv vor den Fernseher, schaute sich etwas an und ging abends ins Bett. Die sahen viele Stunden am Tag passiv rezeptiv das gleiche Programm. Wir haben heute einen zurückgehenden Fernsehkonsum in der jüngeren Generation, wir haben ein viel aktiveres Medienverhalten, man sucht sich aus, was man sehen will und schaltet ab, was man nicht sehen will und damit geht ein Bedürfnis nach realem Leben in einer realen Welt einher, also sich treffen, sich austauschen. Der Bedarf nach Begegnungen im öffentlichen Raum, nach Auseinandersetzung mit der Weit, nach Begegnung mit Menschen wird meiner Ansicht nach durch die neuen Medien langfristig eher verstärkt als zurückgedrängt.

merz: Abschließend noch eine Frage zur Bildungspolitik. Eingangs haben Sie ja darauf hingewiesen, dass die Konzentrationsfähigkeit und die Fähigkeit des Lesens und Schreibens zurück gehen. Nun hat kürzlich der Darmstädter Philosophieprofessor Gernot Böhme eine antizyklische Bildungspolitik gefordert und die Schulen aufgerufen, sich weniger den Computern im Unterricht als vielmehr zukünftig wieder mehr dem Lesen und Schreiben von Texten zu widmen. Was halten Sie denn von solchen Forderungen?

Nida-Rümelin: Ja, da bin ich wirklich entgegengesetzter Meinung. Gernot Böhme ist ja Philosoph an einer technischen Universität und es gibt, etwas platt gesagt, im linksliberalen Bildungsbürgertum eine Attitüde der Abwehr neuer technischer Entwicklungen. Wo ich mich mit Böhme jedoch einigen könnte, das wäre darin, dass man nicht den Euphorikern nachgeben und sagen sollte, ihr könnt eure überkommenen Bildungsinhalte wie Lesen und Schreiben im umfassenden Sinne, also grammatikalisch richtige Sätze und durchdachte Argumente, vergessen. Hier würde ich ihm sofort Recht geben und antizyklische Maßnahmen fordern, wenn diese Fähigkeiten abnehmen. Aber das Ausgrenzen eines ganzen Bereichs, der immer größere Teile unserer Kultur prägt, aus den Bildungsinstitutionen hieße, mutwillig in Kauf zu nehmen, dass die Bildungsinstitutionen zu einer anachronistischen Einrichtung werden, und das kann man nicht wirklich wollen.

Aus: Ein Gespräch mit Julian Nida-Rümelin: "Die durch Medien veränderte Kultur ist geistig anregend". Die Fragen für merz stellte Redaktionsmitglied Günther Anfang, in: medien +erziehung 1/2000, S. 17 - 20.
Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin ist Staatsminister für Kultur.
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