M 05.02 (Vor)urteile - alles Klischee, oder was?
 


Türken stinken nach Knoblauch, unterdrücken ihre Frauen, zwingen sie unter hässlich gemusterte Kopftücher und schlagen die Töchter. Sie tragen weiße Socken zu alten, billigen Hosen und fummeln den ganzen Tag an ihren Gebetskugeln rum. Den Schnurbart würden sie sich nie abschneiden. Nicht einmal für eine Million Mark. Um ihre Ehre zu retten, würden sie sogar töten. Und die ist ziemlich schnell verletzt. Ein kurzer, interessierter Blick auf die Schwester, und das türkische Blut kocht in den Adern. Da ist weder deutsches noch anderes Leben vor Ali sicher. Überhaupt heißen die meisten Ahmet, Ali oder Mehmet. Und nennt sich einer mal anders, kann den Namen sowieso keiner aussprechen. Dass Türken tendenziell gewalttätig sind, gehört zum Allgemeinwissen. Das beweisen zahlreiche Zeitungsmeldungen. Von drei Straftätern in Deutschland ist mindestens einer ein südländisch aussehender Mann. Wenn sie nicht mit Messern bewaffnet deutsche Straßen und Frauen verunsichern, hauen die Türken Gutgläubige bei krummen Geschäften übers Ohr. Ihre mangelnden Deutschkenntnisse nutzen sie schamlos aus: Hat der Türke mal wieder Mist gebaut, zuckt er mit den Schultern und nuschelt "nix verstehen" durch den Bart. Damit ist das Thema für ihn erledigt. [...]

Vorurteile gegen Türken gibt es in Deutschland wie Sand am Mittelmeer. Jahrzehntelang taten die Medien hierzulande ihr Bestes, um diese zu verfestigen. Deutsche wissen genau, wie der Türke gemeinhin so ist. Obwohl sie gar keinen kennen. Gleichzeitig gibt es sicherlich auch genügend Situationen, in denen Türken viele Vorurteile zu bestätigen scheinen. Ein junger Halbstarker, der irgendeinem harmlosen Passanten auf der Straße mit "Isch mach disch Messer" droht, erweckt höchstwahrscheinlich kein Vertrauen. Viele Gastarbeiter haben nie richtig Deutsch gelernt und vermitteln deshalb den Eindruck, sich nicht anpassen zu wollen. Ist der gemeine Türke wirklich so schlimm? Oder ist es nur ein dummes deutsches Klischee-Denken? etap hat sich mit vier jungen Deutschtürken über vorherrschende Vorurteile unterhalten.

Welche Vorurteile gegen Türken nehmt ihr wahr?

Funda: Dass Frauen von ihren Männern unterdrückt werden. Ein deutscher Bekannter wollte von mir wissen, ob Frauen in der Türkei rauchen dürfen.

Ümit: Es gibt das Vorurteil, dass Türken jedem an die Kehle springen, sobald es um ihre Schwester geht. Ich bin seit drei Jahren mit einer Deutschen zusammen. Die Großmutter wollte wissen, ob meine Freundin jetzt Kopftuch tragen müsste.

Hakan: Häufig erlebe ich Situationen, in denen ich doof angeguckt werde, weil ich gut Deutsch spreche. Als Türke ist man für viele gleich auch islamistisch und fanatisch.

Funda: Viele Frauen machen einen großen Bogen um türkische Männer. Sie haben Angst, dass sie angemacht oder belästigt werden. Mir hat mal ein Typ von einer Wohnungsverwaltung gesagt, er vermiete nicht an Türken. Weil sie bei Problemen nur sagen: "Nix verstehen".

Esra: In Deutschland ist das Bild weit verbreitet, dass türkische Mädchen bis zur Hochzeit Jungfrau bleiben müssen.

Funda: Damit haben sie gar nicht so Unrecht. Mädchen dürfen keine Freunde haben. Das schreibt die türkische Gesellschaft vor. Es gibt Mütter, die es akzeptieren, wenn die Tochter einen Freund hat. Aber sie wollen, dass sie auch als Mädchen wieder zurückkommen. Und wenn Deutsche denken, dass junge Türkinnen keinen Sex haben, ist das nicht so falsch.

Hakan: Heutzutage sind die Vorurteile eher subtil. Es erzählt kaum noch jemand Türkenwitze. Aber wenn man sich überlegt, dass Türken zum Beispiel fast nie zu wissenschaftlichen Veranstaltungen eingeladen werden. Es sei denn, es geht um Ausländer.

Esra: Stimmt. Zum Beispiel als man erwogen hat, Cem Özdemir als Ausländerbeauftragten aufzustellen. Das ist doch überspitztes Integrationsbestreben. So nach dem Motto: Jetzt haben wir einen Türken, dann muss der auch Ausländerbeauftragter werden.

Ümit: Ich bin überzeugt, dass ein türkischer Fachmann auch zu einer Tagung eingeladen wird, wenn er in der Thematik besonders gut ist. Aber vielleicht gibt es keine Türken, die diese Tagungen besetzen können.

Funda: Vielleicht wirst du das als Anwalt ja auch noch erleben. Du heißt Ümit Kaplan, und deine Klienten werden erst einmal Türken sein. Das Gleiche gilt für Ärzte. Wenn man in die Praxis eines türkischen Arztes kommt, dann sieht man dort nur türkische Patienten.

Wie sind eurer Meinung nach diese Vorurteile entstanden?

Hakan: In Zeitungen liest man Statistiken, nach denen 30 Prozent der Ausländer kriminell sind. Es wird aber nicht erläutert, wie diese Statistiken zustande kommen. Es wird nicht gesagt, dass sie Straftaten enthalten, die nur Ausländer begehen können. Wie Verletzung der Visumspflicht.

Ümit: Ich glaube, dass es sich um Meinungen handelt, die jemand gebildet hat, ohne die entsprechenden Erfahrungen gesammelt zu haben. Diese Bilder werden weitergetragen. Durch Medien, Bekannte, Witze.

Hakan: Niemand redet darüber, dass es inzwischen um die 40.000 Unternehmen türkischer Herkunft gibt, die knapp 200.000 türken und Deutsche beschäftigen. So etwas wird nur in Nebensätzen erwähnt.

Was tragen Türken zu den bestehenden Vorurteilen bei?

Funda: Die meisten Türken kamen aus Dörfern. Ich habe Siemens-Unterlagen gesehen, in denen stand, dass die Türken weder lesen noch schreiben können mussten, Hauptsache, ihre Hände am Band funktionierten. Ich denke, dass viele noch immer wie vor 30 Jahren leben.

Ümit: Viele Türken zeigen wenig Interesse an der deutschen Gesellschaft. Es gibt viele Beispiele, in denen Deutsche massive Schwierigkeiten mit türkischen Jugendlichen haben. Dafür gibt es Gründe: andere Wertvorstellungen, unterschiedliches Aggressionspotential, niedrigere Hemmschwellen.

Funda: Wenn Türken in ihrer abgeschlossenen Gesellschaft leben, wie soll man dann zueinander kommen? Solange sie sich nicht ernst nehmen, wie sollen es die Deutschen können?

Ümit: Ich kann durchaus das Bild von Türken nachvollziehen, das einige deutsche Mädchen im Kopf haben. Ihre Wirklichkeit war, dass ausländische Jungs sie eher belästigt haben als die deutschen.

Wie entgegnet ihr den Vorurteilen?

Ümit: Um Frauen kennen zu lernen, habe ich als 16-Jähriger verschwiegen, dass ich Ümit heiße. Dann hieß ich auf einmal Jean-Marc oder Luigi, war Franzose oder Italiener.

Hakan: Früher war es so, dass viele ihr Anderssein versteckt haben. Inzwischen können wir sagen: "Ich bin anders, und es stört mich nicht. Ich kann damit leben, wenn du mich anders siehst".

Funda: Wenn Deutsche mein Anderssein als negativ empfinden, ist das deren Problem.

Ümit: Wir sollten uns auf die Deutschen einlassen und zeigen, wie wir Türken sind. Dann würden wir ein anderes Bild schaffen.

Können sich Türken überhaupt in Deutschland integrieren?

Hakan: Den Türken wird keine Plattform geboten. In Talkshows sind doch immer nur junge kriminelle Türken oder Machos, die sagen: "Ich lege alle deutschen Frauen flach".

Funda: Ich glaube, die Deutschen wollen ein geschlossenes Volk sein.

Ist euer Leben mehr deutsch oder türkisch? Habt ihr türkische Freunde?

Hakan: Ich lebe in einem sehr türkischen Kreis. Ich persönlich ziehe keine Grenzen. Für mich gibt es nicht einen türkischen und einen deutschen Teil. Bei meiner Familie ist der türkische Alltag natürlich präsenter.

Funda: Zu Hause wurde mir vermittelt, dass es wichtig ist, türkisch zu sprechen. Ich bin sehr türkisch geprägt. Trotzdem habe ich keine Antipathien gegen Deutsche.

Esra: Mein Leben ist absolut deutsch. Ich hatte nur wenig Kontakt zu Türken. In der elften Klasse war ich ein halbes Jahr in Istanbul. Meine Eltern haben darauf geachtet, dass meine Schwester und ich gut Deutsch lernen.

Ümit: Ich lebe weder besonders deutsch noch türkisch. Als ich 16 war, habe ich bewusst versucht, mir einen türkischen Freundeskreis aufzubauen. Jetzt will ich nicht in den Kategorien deutsch und türkisch denken.

Wann wurde euch bewusst, dass ihr anders seid?

Esra: Als Kind habe ich mich geschämt, wenn wir von Klassenfahrten zurückkamen. Meine Mutter wartete immer allein. Die anderen Eltern standen immer in Grüppchen und haben sich unterhalten. Es gab Lehrer, die gesagt haben, dass sie es toll finden, dass meine Eltern mich Abitur machen lassen. Da habe ich nur gedacht: Sind die blöd?

Ümit: Schon im Kindergarten. Da wurde klar: Ich spreche Türkisch zu Hause und die anderen Kinder sprechen Deutsch.

Hakan: In der achten Klasse. Wir mussten einen Aufsatz schreiben. Mein Lehrer war der Meinung, dass ich ihn nicht selber geschrieben habe, weil ich schwierige Begriffe und einen komplexen Satzbau verwendet hatte. Schlimm war es vor den Bundestagswahlen. Jeder durfte wählen und bildete sich eine politische Meinung. Da wurde mir bewusst, dass ich hier nicht wählen darf.

Funda: Im Kindergarten. Gerade beim Mittagessen. Jeder hat gegessen, was auf den Tisch kam. Für uns wurde extra gekocht. Unsere Eltern haben darauf bestanden, dass wir etwas anderes bekommen. Aber eigentlich wollte ich auch das essen, was die anderen aßen.

Ümit: An meinem ersten Schultag war ich sehr unglücklich. Alle Kinder hatten eine Schultüte. Meine Eltern kannten das nicht. Ich habe dann eine ganz kleine Schultüte bekommen. Ich hatte auch kein Etui. Alle hatten ihre Zweifach-Federtaschen und ich nur eine Plastiktüte, wo meine Stifte drin waren.

Esra: Mein erstes Verliebtsein war ein Problem. Mein Vater hat sich schon aufgeregt, wenn ich mit deutschen Jungs nur gespielt habe. Also war mein erster Freund offiziell natürlich ein Schulkollege.

Wie wünscht ihr euch das türkische Leben in Deutschland?

Funda: Die Türken sollten sich mehr am Alltagsleben beteiligen. Sie sollten ihre Kinder in den Kindergarten schicken. Ich möchte nicht mehr dafür gelobt werden, dass ich akzentfrei Deutsch spreche. Ich wünsche mir mehr Selbstverständlichkeit.

Esra: Dass wir uns nicht mehr darüber unterhalten müssen, wie Integration am besten läuft. Was mich noch viel mehr stört, ist der Multikulti-Scheiß. Das Gerede, wie wir es am besten miteinander aushalten können.

Hakan: Ich möchte, dass Türken als Menschen wahrgenommen und in alle Bereiche der Gesellschaft aufgenommen werden. Auch die Türken müssen sich mehr öffnen - dafür sorgen, dass ihr Bildungsniveau steigt.

Ümit: Dass wir gar nicht mehr darüber reden, welcher Herkunft jemand ist. Im Grunde zählt doch nur, wo ich bin, was ich mache, und meine eigene Persönlichkeit.

Aus: (Vor)urteile - alles Klischee, oder was? In: etap. Deutschtürkisches Leben. Heft 3/2000, S. 38-41.

Arbeitsaufträge:

1. Stimmen die Vorurteile gegen Türken, die Funda, Ümit, Hakan und Esra nennen, mit denen überein, die Ihr kennengelernt habt?
2. Wie gehen sie damit um?
3. Worin liegen nach Ansicht der vier Jugendlichen die Gründe für das problematische Zusammenleben zwischen Türken und Deutschen?
4. Was wünschen sie sich von den Deutschen, was von den Türken in Deutschland, um ein Zusammenleben in Deutschland zu erleichtern?
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