M 06.03 Die geteilte Suppe
 


Eine 28-jährigen Volkskundlerin erzählt die "wahre Begebenheit", die einer Bekannten eines Freundes in Göttingen widerfahren ist:

"Eine junge Frau, eine Studentin, geht zu Karstadt ins Restaurant und kauft sich eine Suppe und eine Cola. Sie trägt beides an einen Tisch, und als sie dort angekommen ist, merkt sie, dass sie vergessen hat, einen Löffel mitzunehmen. Sie geht zurück und holt sich den Löffel.

Als sie wiederkommt, sitzt an ihrem Tisch ein Schwarzer und löffelt in ihrer Suppe. Im ersten Moment regt sie sich innerlich auf, dann denkt sie: "Naja, besser mit Humor nehmen, der hat vielleicht Hunger und nicht soviel Geld", setzt sich dazu, taucht ihren Löffel auch ein und unterhält sich mit ihm. Sie kommen ins Gespräch und teilen sich noch eine Cola, und es ist richtig nett.

Zum Schluss sagt sie dann, sie müsse gehen; als sie aufsteht, merkt sie, dass ihre Jacke nicht da über dem Stuhl hängt, guckt sich um und sieht auf dem Nebentisch ihre unangetastete Suppe und ihre Jacke über der Stuhllehne."

Aus: Brednich, Rolf Wilhelm: Sagenhafte Geschichten von heute. München: Beck 1994, S. 90.

Arbeitshinweise:

1. Die Studentin nimmt das Verhalten des Schwarzen mit Humor und teilt sogar ihre Suppe mit ihm - kann man hier überhaupt von „Fremdenfeindlichkeit" sprechen?
2. Zeichnet einen Comic mit Sprechblasen zu den Gedanken, die sich beide gemacht haben könnten!
3. Wie hättet ihr euch an Stelle des Schwarzen verhalten?
4. Diese Geschichte kursiert international als "wahre Geschichte, die der Bekannte eines Bekannten" (o.ä.) selbst erlebt hat. Solche modernen Wandersagen sind dem Professor für Volkskunde R.W. Brednich zufolge ein "Spiegel für die jeweilige soziale, politische und wirtschaftliche Situation des Landes, in welchem sie erzählt werden" (Brednich, S. 18.) Trifft das auch auf diese Geschichte zu?
5. Seid ihr auch schon einmal in einer Situation gewesen, in der ihr voreilig ungerechte Schlussfolgerungen gezogen habt?
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