M 06.06 Warum macht Anderssein Angst?
 


Stellen wir die Frage, was Rassismus uns selber antut, so müssen wir uns vorerst wohl einmal deutlich machen, woraus er denn entsteht, wovon er sich gewissermaßen ernährt. Da ich aufgefordert bin, als Psychoanalytikerin auf das Problem zuzugehen, möchte ich zuerst fragen, was der Fremde, den wir anscheinend so rasch und bereitwillig als Feind zu betrachten geneigt sind, in uns auslöst, damit wir uns seiner erwehren müssen.

Mit den kolonialistischen Argumenten, Andersrassige seien weniger intelligent oder triebhafter, müssen wir uns hoffentlich nicht mehr befassen. Aber was macht denn das Anderssein aus, das wir so sehr fürchten? Wo müssen wir die Gründe dafür suchen, dass wir nicht freudig, neugierig und entgegenkommend auf fremde Menschen aus andern Kulturen zugehen, um von ihnen zu lernen und an ihren von den unsern verschiedenen Lebenserfahrungen teilzuhaben?

Es gibt verschiedene theoretische Möglichkeiten, sich dem Thema Rassismus oder Fremdenhass zu nähern. Offensichtlich ist, dass es sich, sofern sie nicht bloß Alibifunktion für zugrundeliegende wirtschaftliche Motive einnehmen, um tiefliegende emotionale Reaktionen handelt. Sie laufen oft spontan ab und sind vernünftigen Argumenten schlecht zugänglich. Damit ist die Annahme gerechtfertigt, dass es sich um Reaktionen handelt, die aus dem Unbewußten kommen. Sie haben mit intensiven Affekten, die aus der Kindheit stammen, und eventuell auch mit Triebimpulsen beziehungsweise deren Kontrolle zu tun.

Dazu ein sehr alltägliches Beispiel, das ich mir habe erzählen lassen: Eine Afrikanerin, die, in einem Mietshaus wohnend, dann wäscht, wenn es ihr gerade passt oder wenn sie die Waschmaschine unbenützt antrifft und sie die Wäsche tagelang im Trockenraum hängen lässt, löst nicht nur deshalb den Zorn der andern Mieterinnen aus, weil sie die andern blockiert. Sie weckt Ablehnung und Empörung darüber, dass sie nicht bereit oder fähig ist, sich den Regeln anzupassen, die wir alle über lange Jahre hinweg haben lernen müssen.

In diesem Zusammenhang spricht der Psychoanalytiker Paul Parin von „Anpassungsmechanismen". Das sind Verhaltensweisen gegenüber der Außenwelt, die soziale Anpassung erleichtern sollen. Es handelt sich um spezielle, von einer bestimmten Gesellschaft akzeptierte Formen von Sublimierungen, die auch eine gewisse affektive Befriedigung ermöglichen. „Triebabfuhr" nennen wir das. Gemeinsam ist den Anpassungsmechanismen, dass sie sich stabilisierend auf die Persönlichkeit auswirken. Sie sind eine Hilfe, eine Stütze im Alltag, wirken automatisch und unbewusst, und sie ermöglichen einen konfliktfreien Umgang mit bestimmten gesellschaftlichen Einrichtungen. Diese Stabilisierung wirkt aber nur, so lange die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen eine Person sich die Anpassungsmechanismen angeeignet hat und jetzt lebt, sich nicht ändern.

Der Preis für diese Anpassung ist eine gewisse Erstarrung und Einschränkung. Das Ich verliert zugunsten dieser Anpassung an Flexibilität und Stabilität. Man hält sich an die Regeln, ohne es deutlich zu wissen und zu wollen und nimmt Neues nicht mehr wahr.

Das sind die beiden Seiten der Anpassung. Ich versuche, das in einem Beispiel auszudrücken: Nehmen wir eine Hausfrau an, die täglich einkauft, dreimal kocht, Geschirr spült usw. - so wie sie es gelernt hat und man es von ihr erwartet. Es „stinkt" ihr eigentlich, jeden Tag dasselbe zu tun. Sie glaubt aber, sie sei es der Familie schuldig, und sie erhält sich damit die gesellschaftliche Achtung und Anerkennung sowie die familiäre Liebe. Sie „darf" aber nicht mehr darüber nachdenken, sonst würde ihr das alles sinnlos erscheinen, und sie könnte ihre Aufgabe nicht mehr erfüllen. Aber erst wenn sie sich erlauben kann, darüber nachzudenken und etwas an ihrem Alltagsritual zu ändern, findet sie ihre Kreativität und Improvisationsgabe wieder.

Im Rahmen einer von der Gesellschaft sanktionierten Verhaltensart werden auch verschiedenste Triebbefriedigungen zugelassen. Es ist denkbar, dass gegenüber der Nichteinhaltung von Ruhe und Ordnung, Pünktlichkeit und Sauberkeit eine Wut zum Ausdruck kommt, die dem Anlass gegenüber disproportioniert ist, weil darin gleichzeitig noch andere Frustrationen abreagiert werden. Auf diese Weise kann sich Sadismus in rationalisierter Form äußern.

Dort nun, wo die automatische Anpassung versagt, tauchen Unbehagen und Angst auf. Es ist die Angst, aufzufallen, ausgestoßen und abgelehnt zu werden, also eine Art Angst vor Liebesverlust.

Halten uns nun Fremde, die eine andere Sozialisierung erfahren haben, vor Augen, dass man auch anders - ohne unsere Anpassung - leben kann, so stellen sie uns gewissermaßen in Frage. Das tun sie nicht absichtlich, da sie sich in der Regel ihrer eigenen Anpassungsmechanismen nicht bewusst sind und unsere nicht kennen. Sie tun es durch ihr Gewöhntsein an andere Verhaltensweisen. Sie lösen aber in uns eine Reihe verschiedener Reaktionen aus: Wir haben Angst, wir könnten - vermeintlich wie sie - unsere eigenen mühsam erworbenen Anpassungen und Kontrollen wieder verlieren. Sie können aber auch Neid auf die relativ größere Flexibilität, die sie gewissen Dingen gegenüber haben, verursachen, denn sie nehmen sich Freiheiten heraus, die wir uns mit einer großen inneren Arbeit während einer langen Lehrzeit abgewöhnt haben.

Nach Paul Parin gehören gerade Misstrauen gegenüber allem Fremden, Verschlossenheit und puritanischer Verzicht auf äußeres Prestige zu den spezifisch schweizerischen Eigenschaften, die uns zum Beispiel von den sonst ebenfalls sehr zwanghaften, genauen und übermäßig kontrollierten Süddeutschen unterscheiden. Dafür bezahlen wir den Preis der Erstarrung und Isolierung - auch auf der politischen Ebene. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich über diese Eigenarten ein wenig Klarheit zu verschaffen, um mit den Gefühlen, die Fremde in uns auslösen, besser umgehen zu können.

Einmal abgesehen von möglichen Rachegefühlen der Betroffenen, die auf uns zurückfallen könnten, ist es aber das, was uns der Rassismus antut: Statt unsere Phantasie und unsere Kreativität freizusetzen, um angesichts neuer sozialer Realitäten nach neuen Lösungen zu suchen und eine Zukunft ins Auge zu fassen, an der wir uns (noch) aktiv mitbeteiligen können, klammern wir uns an die alten Formen. Wir fürchten um den Verlust des uns noch Vertrauten, aber möglicherweise schon Ausgehöhlten, und werden den auf uns zukommenden neuen Anpassungsanforderungen gegenüber schwächer statt stärker, weil wir aus Rigidität von den überkommenden Vorstellungen nicht ablassen können.

Um den Menschen die Angst vor dem Neuen und Fremden zu nehmen, müsste man wohl mehr Raum schaffen für Phantasie und Improvisation, für Freude, Zärtlichkeit und Spontaneität. Man müsste mehr Gelegenheiten für Primärerfahrungen, das heißt für den direkten Kontakt, mit den Fremden schaffen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass Fremde in unserem Land vorerst auch Entwurzelte sind. Ihre mitgebrachte, je andere Anpassungsform ist in der neuen Umgebung ungültig geworden, was sie verängstigt und verunsichert.

Eigentlich brauchen beide Seiten einen Dolmetscher, der zwischen den Erwartungen, Vorurteilen, Urteilen, Wünschen und Ängsten vermittelt.

Aus: Haeberli, Yvonne: Warum macht Anderssein Angst? In: Was tut uns der Rassismus an? Lese- und Arbeitsheft des cfd, Christlicher Friedensdienst. Bern 1987. (Schriftliche Fassung eines Kurzvortrages, den die Psychoanalytikerin Yvonne Haeberli an einer cfd-Tagung zum Thema „Was tut uns der Rassismus an?" im Herbst 1986 hielt.)

Arbeitshinweise:

1. Worin sieht Haeberli die Ursachen für die Abneigung gegenüber dem Fremden?
2. Was sind nach diesem Ansatz die Folgen rassistischer Einstellungen für uns selbst?
3. Für welche Lösungsansätze plädiert die Verfasserin? Kommentiert diese!
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