Interview mit dem Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer:
ZEIT: Nach einer aktuellen Umfrage ist ein Drittel der Jugendlichen im Osten und Westen Deutschlands ausländerfeindlich eingestellt. Wer trägt die Schuld an dieser Entwicklung?
Heitmeyer: Ähnliche Ergebnisse haben wir in unseren Untersuchungen schon Mitte der achtziger Jahre ermittelt. Sie wurden nicht ernst genommen. Nun darf man den Jugendlichen nicht von vornherein die Schuld in die Schuhe schieben. Wer über Fremdenfeindlichkeit und Gewalt spricht, muss zunächst über die Generation der Eltern, der Herrschenden, der Machthabenden sprechen. Die Jugendlichen werden in eine Gesellschaft hineingeboren, die sich zwar demokratisch und auch sozial nennt, aber eine harte Konkurrenzgesellschaft ist.
ZEIT: Sie sprechen von Westdeutschland.
Heitmeyer: Das ist richtig. Wir müssen nach separaten Erklärungen für die beiden deutschen Gesellschaften suchen. In Westdeutschland hatten wir es über Jahrzehnte hinweg mit immer stärkeren Individualisierungsprozessen zu tun. Das heißt, es gibt eine Zunahme von Handlungsmöglichkeiten für den einzelnen bei gleichzeitigem Herauslösen aus sozialen Milieus. Die Formen der Gewalt in den beiden Gesellschaften sind durchaus unterschiedlich. Ich will im Westen überhaupt nichts beschönigen, denken wir nur an Hünxe. In Ostdeutschland treffen wir allerdings auf entgrenzte Gewalt. Die Jugendlichen sind unter repressiven Verhältnissen aufgewachsen, gewissermaßen mit Außensteuerung. Bricht diese weg, sind keine moralischen Positionen mehr vorhanden, die Grenzen in Konfliktsituationen markieren können.
ZEIT: Die Zahl der rechtsextremistischen Gewalttäter ist ungefähr bekannt. Wie viele Claqueure, wie viele klammheimliche Klatscher gibt es in Deutschland?
Heitmeyer: Schwer zu sagen. Fest steht: Schon in der ersten Hälfte dieses Jahres, als es noch keine Exzesse wie in Rostock gab, ging die Akzeptanz von Ausländern in den Meinungsumfragen zurück. Gleichzeitig stieg das Verständnis für rechtsradikale Aktivitäten. Obwohl die Zahl der Straftaten in den ersten sechs Monaten dieses Jahres viermal so hoch war wie im Vergleichszeitraum von 1991, wurde dieses Thema in der Öffentlichkeit nicht sehr beachtet.
ZEIT: Wurden die Gewalttaten für eine Randerscheinung gehalten?
Heitmeyer: Es herrschte die Illusion, Fremdenfeindlichkeit wäre ein Problem von Randgruppen, von sozial Schwachen. Aber wenn Asylbewerberheime in gutbürgerliche Siedlungen hineingestellt werden und dort vielleicht den Verkaufswert der Grundstücke mindern, keimt dort die Fremdenfeindlichkeit genauso auf.
ZEIT: Haben Sie eine allgemeine Erklärung für Fremdenfeindlichkeit?
Heitmeyer: Das zentrale Problem sind soziale, berufliche und politische Auflösungsprozesse, die sich längst nicht mehr auf irgendwelche Randgruppen beschränken - sie haben den Kern der Gesellschaft erfasst. Eine Gesellschaft wird durch Tradition, soziale Rituale, Utopien, auch durch Religion oder stabile Gemeinschaften zusammengehalten. Doch diese Bindemittel werden entwertet und von einem individuellen Kosten-Nutzen-Denken verdrängt.
ZEIT: Die Jugend braucht also wieder Vereine, Pfadfindertreffen . . .
Heitmeyer: Ein Teil der Jugendlichen vermisst die alten Integrationsmuster. Sie suchen einen Halt und neue Gewissheiten. An diese Alltagserfahrungen knüpfen rechtsextreme Gruppen an: Sie bieten Vorurteile und Ersatzstabilisatoren an. Die etablierten Politiker und Wissenschaftler verschleiern dies: Sie tun so, als könne man die Randgruppen befrieden durch finanzielle Unterstützung oder notfalls durch Repression. Konsum, Geld und Status - solche Integrationsmittel werden sehr schnell aufgebraucht, wie wir in Ostdeutschland gerade sehen. Und weil die fremdenfeindlichen Muster tief in den Alltag eingesickert sind, werden die gesellschaftlichen Institutionen paralysiert.Nehmen wir zum Beispiel die Kirchen. Sie veranstalten zwar pflichtgemäß die Woche des ausländischen Mitbürgers, und hier und dort treten einzelne Pfarrer kämpferisch auf. Aber die Kirche als Institution darf nicht allzu vehement auftreten, weil der Kern der Kirchgängerschaft stark von Vorurteilen geprägt ist. Oder nehmen wir die Gewerkschaften: Dreißig Prozent der Republikaner-Wähler in Baden-Württemberg sind Gewerkschaftsmitglieder. Solche Institutionen sind also regelrecht handlungsunfähig.
ZEIT: Auch die Schulen?
Heitmeyer: Auch die. Wie kommt es denn, dass Lehrer und Lehrerinnen heute still sind, wo es dem Mustafa auf der Nebenbank möglicherweise an den Kragen geht? Das hat auch etwas damit zu tun, dass zahlreiche Pädagogen womöglich mit ihrer eigenen Fremdenfeindlichkeit nicht zurechtkommen!
ZEIT: Manche Politiker geben den Medien die Schuld.
Heitmeyer: Medienkampagnen, wie sie nach Hoyerswerda abliefen, dienen nur zur Ausbeutung von Moral, bewirken aber nichts. Die Medien haben zwar durchaus ein Interesse an Gewalt, denn Gewalt verkauft sich gut. Aber es darf nicht eine ständige Gewalt sein, sondern es müssen Konjunkturen wie in Rostock her. Und wenn es keine realen Gewaltkonjunkturen gibt, dann stellen sie die Medien eben selber her und täuschen so über die alltäglichen Ursachen von Gewalt hinweg.
ZEIT: Hätte sich Rostock verhindern lassen, wenn wir aus Hoyerswerda gelernt hätten?
Heitmeyer: Wohl kaum, denn die strukturellen Ursachen des Rechtsextremismus werden überhaupt nicht bekämpft. Nach Hoyerswerda wurden zwar zahlreiche Maßnahmen angekündigt, aber bei genauerem Hinsehen handelte es sich nur um Versuche, gewalttätige Jugendliche zu bekehren oder zu bestrafen. Die Ursachen wirkten weiter, und ein Teil der politischen Klasse, auch ein Teil der Medien, versucht, den Rechtsextremismus dadurch zu bekämpfen, indem er Teile seines Gedankengutes in das eigene Gedankengut übernimmt . . .
ZEIT: Ein schwerwiegender Vorwurf!
Heitmeyer: . . . es findet gewissermaßen eine Normalisierung von fremdenfeindlichen Positionen statt. Alles, was als normal gilt in einer Gesellschaft, kann nicht mehr problematisiert werden. Die Normalisierung von Fremdenfeindlichkeit vermindert die Chancen, etwas dagegen zu unternehmen, was die Paralyse der sozialen Institutionen beweist.
ZElT: Sind die Ausschreitungen von Rostock ein spezifisch deutsches Phänomen?
Heitmeyer: Nein. Sicher muss man die besondere Situation in Deutschland in Rechnung stellen, den Wiedervereinigungsstress, die hohe Zuwanderungsrate und so weiter. Ich vermute aber, dass sich die Konflikte auch in anderen Ländern zuspitzen werden. Überall gibt es ein Auseinanderfallen zwischen der technologisch-ökonomischen Entwicklung, die auf Hochtouren läuft, und einem sozialisatorischen Schneckentempo der Menschen.
ZEIT: Lähmt diese Entwicklung auch den Protest gegen die Fremdenfeindlichkeit?
Heitmeyer: Ja. Im Golfkrieg gab es noch ein Feindbild und die Utopie einer friedfertigen Welt. Wogegen soll man jetzt kämpfen, wenn man zu den derzeitigen Profiteuren der Modernisierungsprozesse zählt? Soll man gegen sich selbst demonstrieren?
ZEIT: Von Ihnen stammt der Satz: Bildung ist kein Hinderungsgrund für Fremdenfeindlichkeit.
Heitmeyer: Toleranz wird auch dort nur so lange geübt, solange man es sich leisten kann. Außerdem verhallt der Aufruf zur Toleranz folgenlos, wenn das Bild des fehlerlosen Fremden gemalt wird, wenn also gegen das Zerrbild der Fremdenfeindlichkeit ein Idealbild gestellt wird. Multikulturelle Gesellschaft bedeutet im rechten Spektrum Chaos, während in der linken Szene mit diesem Begriff auch heute noch ein immerwährendes Straßenfest verbunden wird. Aus diesen Gräben müssen wir raus. Wir brauchen eine multikulturelle Konfliktforschung, die rechtliche, politische, soziale Mechanismen der Konfliktregelung entwickelt.
ZEIT: Was bedeutet dies für gefährdete Jugendliche?
Heitmeyer: Wir müssen immer wieder in die sozialen Verästelungen des Alltags hinuntersteigen, denn dort entsteht die Gewalt. Individuell, rein rechnerisch, verfügen wir über immer mehr Freizeit. Gleichzeitig nimmt aber die gemeinsam verbrachte Zeit immer mehr ab. Das hat etwas mit der Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft zu tun, mit der Flexibilisierung von Arbeitszeiten und neuen Produktionsmethoden. Dieser Mangel an gemeinsam verbrachter Zeit geht eindeutig zu Lasten von Kindern und Jugendlichen. Ihre Sorgen, Nöte und Wünsche - und das sind in der Regel Herzenssachen - werden in die übriggelassenen Zeitlücken hineingestopft. Das Pinnbrett in der Küche wird zum Kommunikationskern der Familie. Die Zeit, um mich mit den anderen abzustimmen, um Rollen zu lernen, Konflikte zu regeln, gemeinsame Normen und Werte anzunehmen, geht zunehmend verloren. Die Orientierungsprobleme der Eltern werden auf die Jugendlichen übertragen. Soziale Verankerungen lösen sich auf. Wir müssen also die Folgen unseres Handelns für andere überhaupt nicht mehr bedenken. Gleichgültigkeit schleicht sich ein. Das heißt, die Gewaltschwelle sinkt.
ZEIT: Es wachsen also immer mehr kleine Rambos aus den Familien heraus?
Heitmeyer: Es ist zu befürchten, dass die Brutalität zunimmt.
ZEIT: Das Grundübel liegt demnach bei der Pädagogik, weniger bei der Politik.
Heitmeyer: Einseitige Schuldzuweisungen sind verfehlt. Aber vor allem konservative Politiker haben sich in eine Falle hineinmanövriert. Sie fördern die Durchkapitalisierung der Gesellschaft und predigen gleichzeitig die Familie als hehren Ort und Keimzelle der Gesellschaft.
ZEIT: Die Keimzelle zerfällt . . .
Heitmeyer: Der Kapitalismus konnte seinen Siegeszug vor allem deswegen antreten, weil er sich auf traditionellen Gemeinschaftsformen - Familien, Sippen - austoben konnte. Er hat diese Instanzen im Laufe der Zeit mehr oder weniger zerbröselt. Ausgrenzung des Fremden ist dann das letzte Mittel, das den Auflösungsprozessen entgegengesetzt wird. Nationale Stimmungen dienen als soziales Bindemittel. Das ist der Kernpunkt meiner Argumentation: Je weiter die Desintegration der aufnehmenden Gesellschaft voranschreitet, desto größer werden die Integrationsprobleme für Zuwanderer.
ZEIT: Was folgt daraus?
Heitmeyer: Dass wir diejenigen, die aufgenommen werden wollen, nicht rauswerfen, sondern unsere eigenen Desintegrationsprozesse stoppen. Das ist die eigentliche Bewährungsprobe, die dem Kapitalismus noch bevorsteht.
ZEIT: Das wird Ihnen der Normalbürger nicht abnehmen. Viele sehen in den Geldern, die wir für Asylbewerber ausgeben, nur eine überflüssige Umerteilung.
Heitmeyer: Nun gut. Da hätte man den Menschen schon längst sagen müssen, welche Umverteilung zwischen Süden und Norden stattgefunden hat. Wir haben in ganz anderen Dimensionen profitiert. Aber rationale Argumente prallen natürlich ab bei Menschen, die voller Vorurteile sind. Dies gilt auch für die Politik: Nehmen wir Oskar Lafontaine, der vor Populismus nur so strotzt - auch hier können solche Einsichten nicht wachsen . . .
ZEIT: Zumindest kann man den Politikern nach Rostock nicht mehr vorwerfen, das Thema Rechtsextremismus unter den Tisch zu kehren.
Heitmeyer: Sie reden zwar darüber, verhindern aber die Suche nach den Ursachen. Sie haben ein Tätermodell im Kopf und machen sich schnell aus dem Staube nach dem Motto: Wir sperren die Verbrecher ein, und schon ist das Problem erledigt. Das schreckt rechtsextreme Jugendliche nicht ab. Das Etikett "Neonazi" hat außerdem häufig den Effekt, dass die so Bezeichneten die allgemeine Angst vor diesem Etikett spüren. Die Angst der Erwachsenen ist zugleich ein Machtzuwachs bei diesen Jugendlichen.
ZEIT: Gibt es Möglichkeiten, die Integration dieser Jugendlichen nachzuholen?
Heitmeyer: Mit Sicherheit nicht durch Moralpredigten. Denn je höher die Moralisierung, desto niedriger sind die Kommunikationschancen. Und wir wissen auch, dass Repression erst recht keine Probleme löst.
ZEIT: Was schlagen Sie vor?
Heitmeyer: Man muss sich zunächst über eines klar werden: Gewaltprozesse sind Interaktionsprozesse. Das bedeutet, die Konfliktparteien lernen voneinander. Wenn Asylbewerberheime bewacht werden, suchen sich die Gewalttäter eben Orte, wo Ausländer nicht geschützt werden können. Und es hilft auch nicht zu sagen: "Wenn die erst mal älter sind, dann wachsen sie aus diesen Gewaltgruppen raus und werden vernünftig."
ZEIT: Werden die Verbrechen auf diese Weise verharmlost?
Heitmeyer: Ja. Man beruhigt sich: Die Rocker von damals sind zu Sparkassenangestellten, Busunternehmern oder Stadtverordneten geworden. Warum sollte das nicht auch mit den gewalttätigen Jugendlichen passieren? Solche Integrationsmuster funktionieren nicht mehr so einfach, wie wir in einer Langzeitstudie festgestellt haben. Außerdem: Wenn die Jugendlichen erst einmal in Gewaltzusammenhängen stecken, dann erfahren sie Gewalt als durchaus effektives Handlungsmuster und gewöhnen sich daran.