Ohne Einwanderer verspielen wir unsere Zukunft.
Kanzler Gerhard Schröder ist ein Illusionskünstler: Er beseitigt ein altes Trugbild und schafft zugleich ein neues. Sein Vorschlag, Zehntausende von ausländischen Computerfachleuten für ein paar Jahre ins Land zu holen, zerstört die Lebenslüge, die Deutschen seien aus eigener Kraft für die Zukunft gewappnet. Im selben Augenblick weckt er jedoch die Illusion, die fremde Hilfe werde nur für kurze Zeit benötigt. Die Bundesrepublik ist dauerhaft auf junge, tatkräftige Menschen aus Osteuropa und Übersee angewiesen. Für sie braucht man deshalb - anders als der Bundeskanzler vorgibt - nicht bloß eine "Green Card", eine Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis, sondern ein umfassendes Konzept, kurz: ein Einwanderungsgesetz.
Vierzig Jahre lang wiederholten gebetsmühlenhaft alle Bundesregierungen, ob schwarz oder rot: "Deutschland ist kein Einwanderungsland." Im Alltag aber hielten sie sich - oft auf Druck der Wirtschaft - nicht an ihre Formel. Die Gastarbeiter mussten nicht, wie ursprünglich geplant, alle sechs Jahre durch andere Landsleute ersetzt werden, sondern blieben und durften sogar ihre Familien nachholen. Neben dem Bergarbeiter aus Anatolien und dem Automechaniker aus Sizilien kamen und blieben auch Hunderttausende von Flüchtlingen und etwa drei Millionen deutschstämmige Aussiedler. Zu Beginn des Jahrhunderts leben rund 7,4 Millionen Ausländer in Deutschland, keine anderer Staat in Europa hat seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen aufgenommen.
Doch die Bundesrepublik, soll sie wirtschaftlich weiter gedeihen, braucht noch mehr Einwanderer, ungefähr 500 000 pro Jahr, schätzt die Uno. Nur so seien der drastische Geburtenrückgang und die Überalterung der Deutschen wettzumachen. In ihrer kürzlich erschienenen Studie zeichnet die Weltorganisation ein apokalyptisches Bild für das Deutschland des Jahres 2050: die Bevölkerung von heute rund 80 auf knapp 60 Millionen geschrumpft, die Wirtschaft im globalen Wettbewerb hoffnungslos abgehängt, die Gesellschaft ausgezehrt und unfähig, ihre Rentner und Kranken zu versorgen. Die Prognose ist vielleicht zu düster, aber die Regierung, die Wirtschaft, selbst die Gewerkschaften haben die Botschaft verstanden: Ohne Einwanderung keine Zukunft.
Verkehrte Welt: Die Konservativen, die lange gegen die Einwanderungsgesellschaft Sturm liefen, müssen unter dem Druck der Unternehmer umdenken. Und viele Linke, die stets ein großes Herz für die Mühseligen und Beladenen hatten, erfahren nun, dass sich Migrationspolitik nicht am Elend dieser Welt, sondern an harten wirtschaftlichen Bedürfnissen orientiert.
Das ist wohl die erste Lehre, die am Ende sogar die Skeptiker, die Warner und die Wortführer an den Stammtischen überzeugen könnte: Einwanderer dienen dem nationalen Interesse; sie kurbeln den Wettbewerb und die Wirtschaft an, helfen deshalb, die leeren Renten- und Krankenkassen zu füllen, und schaffen damit letztlich soziale Stabilität.
Und dieser Einsicht folgt eine zweite Lehre: Weil nur helfen kann, wer etwas anzubieten hat, braucht Deutschland nicht irgendwelche, sondern qualifizierte Einwanderer. Man sollte deshalb nicht über Zahlen, sondern über Ziele reden - über die drei Ziele eines Migrationsgesetzes: verlässliche Kriterien, Integration, Aufnahmebereitschaft und Rückhalt in der heimischen Bevölkerung.
Verlässliche Kriterien
Heute braucht die deutsche Wirtschaft Computerfachleute, morgen unter Umständen Altenpfleger, übermorgen vielleicht Piloten. Doch wer legt den Bedarf und die Quote fest? Wie verhindert man, dass Entwicklungsländer ausgerechnet ihre beste Köpfe verlieren? In Kanada zum Beispiel entscheidet ein Gremium aus Unternehmern, Gewerkschaftlern, Politikern, Bürgerrechtlern, Dritte-Welt-Aktivisten und Kirchenleuten. Der Vorteil: Alle Interessen finden Gehör, die Debatte ist offen, und am Ende weiß jeder zwischen Neufundland und Vancouver, wie viele Menschen Jahr für Jahr einwandern dürfen.
Die Quote müsste selbstverständlich auch andere Einwanderungszahlen berücksichtigen. Wer dieses Jahr 70 000 Software-Experten aus Indien und Russland anwirbt, sollte die Tür für Aussiedler wie für Familienangehörige ehemaliger Gastarbeiter nur einen Spaltbreit öffnen, andernfalls überfordere er die Aufnahmebereitschaft der Bevölkerung. Asylbewerber und Flüchtlinge gehören hingegen nicht in diese Rechnung. Zum einen verbieten das Grundrecht auf Asyl und die Genfer Flüchtlingskonvention, ihre Aufnahme von vornherein zahlenmäßig zu beschränken. Zum anderen suchen sie vorübergehend Schutz und sind schon nach ihrer Definition keine Einwanderer. Das werden sie allenfalls, wenn ihre Heinkehr auf sehr lange Zeit ausgeschlossen bleibt.
Im Übrigen gilt: Quoten und Aufnahmekriterien werden in Zukunft die Europäer ohnehin nur gemeinsam festlegen können. Denn wenn alle Binnengrenzen wegfallen, die Menschen frei hin und her ziehen und überall innerhalb der Union arbeiten dürfen, kann kein Staat mehr für sich allein entscheiden, wie viele Einwanderer er aufnehmen wird. Obwohl nach Untersuchungen der Uno und der OECD fast alle EU-Staaten Einwanderer brauchen werden, wagt sich im Augenblick niemand vor. Warum also sollte Deutschland nicht mit einem Einwanderungsgesetz den Anfang machen?
Integration
Wer kommen darf, sollte auf Dauer bleiben können. Junge, qualifizierte Ausländer werden die Mühsal, Deutsch zu lernen, nur auf sich nehmen, wenn es sich langfristig für sie lohnt, wenn sie sich also fest niederlassen, selbstständig machen, Frau und Kinder mitbringen dürfen. Integration heißt geben und nehmen. Ein Migrationsgesetz stellt deshalb auch Einwanderern klare Bedingungen: Erlernen der deutschen Sprache, der Geschichte, der Lebensgewohnheiten, der gesellschaftlichen Regeln, die Achtung von Recht und Gesetz. Anderswo ist es für Immigranten Pflicht, die Schulbank zu drücken und Staatsbürgerkunde zu pauken. Warum nicht ebenso in Deutschland?
Aufnahmebereitschaft
Nicht alle Deutschen werden von den Immigranten profitieren, ohne Zustimmung der heimischen Bevölkerung wird deshalb jede auch noch so gut gemeinte Einwanderungspolitik fehlschlagen. Angesichts der vier Millionen Arbeitslosen kommt schnell der Verdacht auf, es gehe dem Staat und Unternehmen allein um billige Arbeitskräfte, um das Aushebeln von Tarifen, ums Sparen bei Ausbildung und Umschulung. Die Amerikaner haben deshalb aus der Not eine Tugend gemacht. Jahr für Jahr holen sie mehr ausländische Fachkräfte ins Land, erst im vergangenen Jahr wurde das Kontingent für Computerexperten um 20 000 auf insgesamt 115 000 erhöht. Doch für jeden Einwanderer müssen die Unternehmer eine Gebühr in einen Fonds einzahlen. Das Geld erhalten die amerikanischen Schulen, Universitäten und Ausbildungsstätten, um den Nachwuchs zu fördern.
Deutschland hat ein ähnliches Problem wie die Vereinigten Staaten: In den USA landen noch immer die Afroamerikaner, hier viele der rund zwei Millionen Deutschtürken auf der Verliererstraße. Der Anteil von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern unter ihnen ist sehr hoch, unverhältnismäßig viele von ihnen haben nur einen Hauptschulabschluss. Wer nicht will, dass sie voller Neid und Hass auf die neuen Einwanderer blicken, müsste auch den alten Immigranten etwas bessere Perspektiven bieten.