M 08.02 "2;Inder für Kinder"2; (Interview)
 


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politik-digital: Die schlichte Parole "Kinder statt Inder" des NRW-Spitzenkandidaten der CDU Jürgen Rüttger hat weit über die NRW-Wahl hinaus eine regelrechte Lawine ausgelöst. Welcher Nerv wurde hier getroffen?

Eike Hebecker: Hinter der verkürzten Formel verbergen sich in der Tat zentrale gesellschaftspolitische Dimensionen, deren Problematik sich durch den Ausspruch Rüttgers neu konkretisierten. Die Äußerung tangiert inhaltlich die Themen der Revision der Einwanderungspolitik, die Reform des Bildungssystems sowie die Frage der Generationengerechtigkeit im Hinblick auf eine zukünftige Lastenverteilung. Allesamt hochsensible und tabuisierte Politikfelder, von denen bekannt ist, dass sie für keine populären, pauschalen und spontanen Lösungen empfänglich sind. Ein Politiker, der dies wider besseren Wissens suggeriert und propagiert, kann schnell seine Glaubwürdigkeit verlieren, zumal wenn er als ehemaliger Zukunftsminister eher als ein Teil des Problems, als ein Teil der Lösung identifizierbar ist.

politik-digital: Vom Rüttger}schen "mauvais-mot" zum Auslöser: der Green Card. Inwiefern ist diese Initiative als veränderte Haltung bei der Einwanderungspolitik zu sehen?

Eike Hebecker: Die Debatte um die Zuwanderung hat in dem Sinn ja der Bundeskanzler angestoßen, indem er eine Greencard-Regelung für die fehlenden hochqualifizierten Arbeitskräfte in der IT-Branche angeregt hat. Dass diese punktuelle wirtschaftspolitische Intervention nicht zu begrenzen sein würde, war vorauszusehen und zeigte sich nicht nur an der Ausweitung dieser Option auf andere Berufsgruppen wie das Hotel- und Gaststättengewerbe oder Spargelpflücker, sondern vor allem an der einsetzenden Diskussion um eine neue Einwanderungspolitik, die es erlaubt, die Zuwanderung an den ökonomischen Bedürfnissen der Bundesrepublik zu orientieren. Dazu gehört natürlich ein Bekenntnis zu der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist und Einwanderung braucht, was bisher ja insbesondere von der CDU/CSU vehement bestritten worden ist und auch in der gegenwärtigen Diskussion zu einer polemischen und unsachlichen Vermischung von Einwanderung und Asyl geführt hat. Darüber, ob der Kanzler hier mit strategischem Kalkül gehandelt und einen Test-Ballon gestartet hat, lässt sich nur spekulieren. Das Zögern, eine entsprechende Gesetzgebungsinitiative zu starten, spricht jedenfalls dagegen.

politik-digital: Eine weitere gesellschaftspolitische Dimension, die das Thema Green Card berührt, ist Ihrer Meinung nach die Generationengerechtigkeit. Kommt der Generationenvertrag durch die mangelhaften Investitionen in die Bildungspolitik ins Wanken?

Eike Hebecker: Jürgen Rüttgers hat das Thema mit seiner Formel von den "Kindern statt Indern" ganz konkret auf die Bildungspolitik gelenkt. Für Kinder und Jugendliche jetzt aus wahltaktischen Gründen eine besserer Ausbildung, die notwendigen technischen Ausstattungen in den Schulen und die zukünftigen Jobs zu fordern, erscheint angesichts der Tatsache, dass sie als Bevölkerungsgruppe durch die Sparzwänge im Bildungsbereich und Jugendarbeitslosigkeit bisher in doppelter Hinsicht benachteiligt waren sogar zynisch. Die soziodemographische Situation beginnt sich jedoch spürbar zu verschieben. Die Arbeitslosigkeit wird momentan vor allem durch die Überalterung der Arbeitslosen abgebaut und in Zukunft werden immer mehr Branchen Probleme haben, genügend Arbeitskräfte zu finden. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass wir Kinder und "Inder" also Einwanderung brauchen, um die demographische Schieflage zu korrigieren. Bei der Erwirtschaftung der Kosten und der Verteilung der Lasten unserer sozialen Sicherungssysteme werden "Kinder und Inder" quasi zu Verbündeten.

politik-digital: Der Generationenvertrag ist gefährdet, weil eine adäquate Ausbildungssituation, die es ermöglichen würde, den zukünftigen Bedürfnissen des Arbeitsmarktes und damit des Rentensystems zu begegnen, von den Verantwortlichen nicht geschaffen wurde. Warum hat die Bildungspolitik nicht früher reagiert?

Eike Hebecker: Zunächst einmal ist festzustellen, dass die gegenwärtigen Defizite in der Bildung und Ausbildung voraussehbar waren und von daher hausgemacht sind. Dies ist nicht nur auf fehlende finanzielle Mittel zurückzuführen, sondern hängt maßgeblich mit den strukturellen Problemen des Bildungs- und Ausbildungssystems zusammen, die es nicht erlauben, flexibel auf die gesellschaftlichen und vor allem die arbeitsmarktbezogenen Anforderungen zu reagieren, die mit der rasanten medientechnologischen Entwicklung der letzten Jahre verbunden sind. [...]

politik-digital: Wacht die Politik noch rechtzeitig auf? Was muss passieren, damit die wirtschaftliche und soziale Sicherung in Deutschland gefestigt wird?

Eike Hebecker: Die mit der Green Card indirekt thematisierten Politikfelder Einwanderungspolitik, Generationengerechtigkeit und Bildungspolitik müssen jetzt gleichermaßen Beachtung finden. Dass im Bundesministerium für Bildung und Forschung gegenwärtig über ein 2 Milliarden Sonderprogramm zur Medienbildung nachgedacht wird, stimmt hoffnungsvoll ebenso wie die Idee, einen Teil der Sondereinnahmen aus der Versteigerung von Mobilfunklizenzen in dieser Hinsicht Zweck zu binden. Die Chancen für ein Umdenken und Umlenken stehen jedenfalls nicht schlecht. In den kommenden 10 Jahren werden 60 Prozent des Lehrpersonals an den Schulen ausgetauscht. Die neuen Pädagogen werden gegenwärtig an den Hochschulen ausgebildet und müssen quer durch alle Fächer mit den Optionen der Neuen Medien vertraut gemacht werden, wenn das gegenwärtige Defizit mittelfristig aus eigener Kraft kompensiert werden soll. Vielleicht sind die vielbeschworenen Inder an Universitäten sogar besser platziert als in den Unternehmen, sie sprechen englisch und können programmieren.

politik-digital: Vielen Dank für das Gespräch.

Ein Gespräch mit Eike Hebecker, Politikwissenschaftler und Experte für Bildung und Neue Medien, über die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Green-Card.

Aus: Welzel, Carolin: Interview mit Eike Hebecker: „Inder für Kinder". In: www.politik-digital.de (Download vom 04.05.2000).

Arbeitshinweise:

1. Warum hatte Rüttgers Parole „Kinder statt Inder" solch kontroverse Diskussionen zur Folge?
2. Wie und mit welcher Begründung wandelt Hebecker das Zitat um?
3. Welche Auffassung vertretet Ihr in dieser Kontroverse?
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