M 11.01 Doppelbürger - halbe Bürger
 


Die doppelte Staatsbürgerschaft ist zum politischen Maskottchen von Aufgeklärtheit und Liberalität geworden. Wer Einwände dagegen äußert, wird als Nationalist und Finsterling verdächtigt; oder, schlimmer noch, man versteht gar nicht, wo das Problem liegen soll. Ist nicht der Paß eine Formsache, gar nicht so wichtig?

Die Frage muss man zunächst einmal an die Reformer des Staatsbürgerschaftsrechts zurückgeben. Eigentlich sind sie es, die den Paß überschätzen. Sie meinen, hier ein besonders nützliches Instrument der Ausländerintegration in der Hand zu haben. Es kostet kein Geld, und es ist ideologisch korrekt, ein demonstrativer Akt gegen Deutschtümelei und Stammtischvorurteile. Nur zur Integration trägt der Paß leider sehr wenig bei. Denn in erster Linie geht es um ein gesellschaftliches Problem, viel weniger um ein staatlich-juristisches; und wer vorzugsweise den rechtspolitischen Weg einschlägt, der begeht gleich zwei Fehler. Er wird das Gesellschaftliche vernachlässigen, weil er ein rechtliches Patentrezept zur Lösung der "Ausländerfrage" gefunden zu haben glaubt. Und er würdigt das Recht herab, wenn er es als scheinhaften Ersatz für die viel schwierigere soziale Integration mißbraucht. Im politischen Bürgerstatus das Integrationsmittel der Wahl zu sehen, heißt, den Unterschied von Staat und Gesellschaft zu verkennen.

Als Heil- und Hilfsmittel für die Ausländerpolitik überschätzen also die Reformer das Staatsbürgerrecht. Dafür unterschätzen sie es in seinem Eigenwert, und das eben zeigt sich in der Debatte über die Zweistaatigkeit. Nicht, dass sie an sich von Übel wäre; auch wird die Gefahr der gespaltenen Loyalität von konservativer Seite gern übertrieben. Aber in der regelmäßigen Hinnahme der doppelten Staatsangehörigkeit offenbart sich doch ein seltsam mut- und liebloses Bild vom eigenen Gemeinwesen. Man traut ihm gleichsam die Attraktivität nicht zu, die Neubürger veranlassen könnte, um der frei gewählten deutschen Identität willen auf eine andere zu verzichten. Es mag übrigens sein, dass die geringe Selbsteinschätzung, die hier zutage tritt, sogar berechtigt ist. Es liegt nicht viel Herzerhebendes darin, ein Bundesdeutscher zu sein, keine Idee oder Mission, kein republikanisches Menschenrechtspathos wie in Frankreich und kein amerikanisches Sendungsbewußtsein der Freiheit. Das muß ja auch nicht sein, man kann es ohnehin nicht künstlich erzeugen. Aber ein Land zu sein oder zu werden, für das man sich gern entscheidet, wäre doch aller Mühe wert - politisch, kulturell und lebenskünstlerisch. Die Behandlung des Staatsbürgerrechts als beliebige Draufgabe, als etwas, das nichts kostet und daher auch nichts wert ist - dieses Zeugnis mangelnder Selbstachtung ist gewiß nicht geeignet, Respekt bei anderen und bei uns Ehrgeiz für die Pflege der eigenen Anziehungskraft zu wecken.

Am merkwürdigsten in der Diskussion über die doppelte Staatsbürgerschaft ist ein selten beachteter Selbstwiderspruch ihrer Befürworter. Sie sind es ja, die den Abschied vom traditionellen deutschen Begriff der Nation als Abstammungseinheit fordern, die Abkehr von allem Ethnischen, Völkischen und Blut-und-Bodenhaften. Das ius sanguinis, das Deutschsein kraft Herkunft von deutschen Eltern, gilt ihnen als schlimmer Anachronismus. Er soll ersetzt werden durch das aufgeklärte "westliche" Verständnis der Nation als Lebens-, Alltags- und Überzeugungsgemeinschaft, als Vereinigung von freien Bürgern, nicht als Schicksalsbund von Clangenossen. Verfassungspatriotismus statt Stammesnationalismus. Nur ist es eben gerade dieses Staatsverständnis, das die bewußte Wahl, die Entscheidung für eine Bürger-Identität verlangt.

Was sind das für Verfassungspatrioten, die ihre mit der Verfassung verbundene Staatsbürgerschaft so gering schätzen, dass die Option für diese Staatsbürgerschaft unter Aufgabe einer anderen ihnen regelmäßig unzumutbar vorkommt? Gerade wer die Zugehörigkeit zu einer Nation nicht als Naturgegebenheit, sondern als Willens- und Freiheitsakt versteht, muß bereit sein, dafür ein Opfer zu fordern oder zu bringen. Fortdauernde Anhänglichkeit der Neubürger an das Land ihrer familiären Herkunft ist dadurch keineswegs ausgeschlossen. Man kann durchaus zwei Frauen lieben. Aber man kann nur mit einer verheiratet sein.

Aus: Ross, Jan: Doppelbürger - halbe Bürger. In: Die Zeit vom 07.01.1999

Arbeitshinweise:

1. Welche Argumente führt der Autor gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft an?
2. Nimm Stellung zu seiner Argumentation!
-> drucken