M 11.02 Doppelbürger - gute Bürger
 


Millionen Menschen haben zwei Pässe. Sind sie ein Problem? Haben sie ein Problem? Mitnichten. Die doppelte Staatsbürgerschaft ist keine Gefahr, sondern eine Chance. Europa kann es nur gut tun, wenn - zum Beispiel - zahlreiche Deutsche auch Franzosen sind und zahlreiche Franzosen auch Deutsche. Nützlich ist die doppelte, noch nützlicher wäre die drei- oder vierfache Staatsbürgerschaft. Dann wäre Europa Europa.

Mehr und mehr Menschen tragen in sich zwei Kulturen, sie haben eine Vater- und eine Muttersprache, ein Mutter- und ein Vaterland. Oder sie sind in zwei Staaten aufgewachsen und lieben den einen wie den anderen. Oder sie haben eine zweite Heimat gefunden, ohne von der ersten zu scheiden. Es ist anachronistisch, diese Menschen auf eine einzige Staatsbürgerschaft beschränken zu wollen.

Bürger zweier Staaten sind gute Bürger. Sie können das Gemeinwesen und das Gedankengut beider Staaten bereichern.

Der ziemlich französische Deutsche Daniel Cohn-Bendit ist jetzt der ziemlich deutsche Kandidat der französischen Grünen bei der Europawahl. Das geht, das ist erlaubt, und fast alle finden: das ist schön. Trotzdem soll die Doppelbürgerschaft unschön bleiben? Wenn Kosmopolitismus heute eine Tugend ist, dann kann doch "Duopolitismus" nicht schlecht sein. Kein Deutscher stößt sich daran, dass Staatsbürgerrechts-Reformgegner Bernhard Vogel erst Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz war und dann Ministerpräsident von Thüringen wurde. In dreißig Jahren wird es für uns Europäer wohl selbstverständlich sein, dass ein guter (und zweisprachiger) Politiker auch einmal die Polis wechselt: von Paris nach Berlin, vom Conseil des Ministres ins Bundeskabinett.

Das wird so wenig Aufsehen erregen wie neulich der Wechsel des Wirtschaftsministers von Schleswig-Holstein nach Nordrhein-Westfalen. In Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur wird der Sprung über nationale Grenzen immer leichter, immer nötiger. Die Politik wird folgen.

Die Gegner der doppelten Staatsbürgerschaft haben vom Staat ein altes, nicht länger stimmiges Bild. Der Staat der Zukunft ist in Europa nicht der Nationalstaat. Das sollte gerade die europäisch gesinnte CDU davon abhalten, die Nationalstaatsbürgerschaft zu überhöhen. Zwar wird er bleiben, der alte Nationalstaat, der hierzulande gar nicht so alt und mittlerweile doch "erwachsen" ist, dixit Kanzler Schröder (wobei die länger schon erwachsenen Amerikaner oder Franzosen mit Doppelbürgern weniger Mühe haben). Aber im europäischen Maßstab wird der Nationalstaat nicht sehr viel mehr sein als im deutschen Maßstab ein Bundesland.

Beide, Nation und Region, werden nach wie vor viel Identität stiften, so wie in Deutschland Bayern Bayern geblieben ist (und darin wiederum Franken Franken bleibt). Aber nationale Identität wird - wie längst die regionale Identität - immer weniger auf der Staatsbürgerschaft beruhen. Der Gedanke an ein Europa offener Regionen und in sich geschlossener Nationen ist albern. Alle Nationen Europas - auch das etatistische Frankreich - werden eines Tages mehr Kultur- als Staatsnationen sein.

Das ist das Einzig- und Großartige an der Europäischen Union als dem neuen maßgeblichen Staatswesen: dass sie weder Nation noch Reich ist, diese zwei hochgefährlichen Gebilde der Politik. Nationale Souveränität bringt man in die EU ein - der Bürger jedoch soll seine Nationalität nicht teilen dürfen? Ganz oder gar nicht: entweder deutsch oder französisch; auf keinen Fall deutsch-französisch. Ein Irrwitz.

Nichts gegen die Franzosen, werden die Doppelbürgerfeinde einwenden, aber hier gehe es ja um die Türken. Na und? What's the problem? Nimmt Deutschland Schaden, wenn ein junger Deutscher auch den türkischen Paß hat? Schaden entsteht, wenn der junge Deutsche nur den türkischen Paß hat. Wer sich nicht zerreißen muß, wird um so besser vermitteln und verbinden.

Aus: Weck, Roger de: Doppelbürger - gute Bürger. In: Die Zeit vom 7.01.1999

Arbeitshinweise:

1. Welche Argumente führt der Autor für eine doppelte Staatsbürgerschaft an?
2. Vergleiche die Argumente mit denen des Autoren, der sich gegen eine doppelte Staatsbürgerschaft ausspricht.
3. Welche Position vertrittst Du?
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