M 12.01 "Berliner Rede" von Johannes Rau
 


"Ohne Angst und ohne Träumereien: Gemeinsam in Deutschland leben"

Auszüge:

Meine Damen und Herren,

  • 30 Prozent aller Kinder an deutschen Schulen stammen aus zugewanderten oder kürzlich eingebürgerten Familien. An manchen Schulen sind es sogar 60 Prozent und mehr.
  • 1997 und 1998 haben mehr Menschen aus anderen Ländern Deutschland verlassen, als Menschen neu zu uns gekommen sind.
  • Von 1990 bis 1998 haben 50 % aller Asylbewerber innerhalb der Europäischen Union in Deutschland um Asyl nachgesucht. 1999 war es ein gutes Viertel.
  • Von allen, die bei uns Asyl suchen, werden vom zuständigen Bundesamt etwa 4 % anerkannt.
  • Allein Türken haben in Deutschland etwa 50.000 Betriebe gegründet und 200.000 Arbeitsplätze geschaffen.
  • Der deutschen Wirtschaft werden in Zukunft qualifizierte Arbeitskräfte fehlen.

Das sind sechs ganz unterschiedliche Feststellungen über die Wirklichkeit in Deutschland - und doch stehen sie in einem großen Zusammenhang. Zuwanderung, Einwanderung, Flüchtlingskontingente, Zuzugsbegrenzung, Integration, Green-Card, Asyl, Abschiebung, Rückführung - diese Stichworte bestimmen seit vielen Jahren immer wieder, in Schüben, die politische Diskussion. [...]

Mehr als sieben Millionen Ausländer leben in Deutschland. Sie haben unsere Gesellschaft in den vergangenen Jahren verändert. Doch wir denken zu wenig darüber nach, was das für das Zusammenleben in unserem Land insgesamt bedeutet. Und wir handeln zu wenig danach. Wie wir miteinander leben, das ist eines der wichtigsten Themen überhaupt, wenn wir an die Zukunft unserer Gesellschaft denken. [...]

Zunächst ist eine schlichte Tatsache anzuerkennen: Dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Kultur in unserem Land zusammenleben, wird sich nicht mehr ändern. Integration ist daher die Aufgabe, die wir gemeinsam anpacken müssen, wenn wir das Zusammenleben erfolgreich und friedlich gestalten wollen. [...]

Die Begegnung mit Fremdem, mit Menschen und Dingen, die wir nicht kennen, ist voller Spannung. Sie ist bestimmt von gemischten Gefühlen: Von Neugier und Abwehr, von Willkommen und Abgrenzung, von Unverständnis und langsamem Vertrautwerden. [...]

Das Zusammenleben ist auch schwierig und es ist anstrengend. Wer das leugnet oder nicht wahrhaben will, ist mit allen Appellen zu mehr Toleranz, Freundlichkeit und Aufnahmebereitschaft unglaubwürdig. Es hilft nichts, vor Problemen die Augen zu verschließen oder allein schon ihre Beschreibung als Ausländerfeindlichkeit hinzustellen. [...]

Es gibt in unserer Gesellschaft Ausländerfeindlichkeit, ja Fremdenhass. Es gibt Gewalt bis hin zu Mord. Gefährlicher noch als einzelne Gewaltakte ist ein gesellschaftliches Klima, das Ausländerfeindlichkeit mit klammheimlicher oder sogar mit offener Sympathie begleitet. [...]

Von denen, die sich ernsthaft mit diesen Fragen beschäftigen, bestreitet kaum jemand, dass wir auch in Zukunft - und zwar im eigenem Interesse - Einwanderung brauchen. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für andere westliche Länder. [...]

Wir können das Zusammenleben in unserem Land nicht dem Zufall überlassen. Die Anforderungen, die wir an uns selber stellen, und an die, die zu uns kommen, müssen gut durchdacht, besonnen diskutiert und klug festgelegt werden. Wir müssen uns über die Bedingungen der Zuwanderung klar werden und wir müssen sie verbindlich regeln. Jeder muss wissen, was ihn erwartet und was von ihm erwartet wird. [...]

Wer sagt: Auf deutschem Boden können nicht alle Probleme dieser Welt gelöst werden, der hat Recht. Ich füge aber hinzu: Deutschland muss für Menschen, die um Freiheit, um Leib und Leben fürchten müssen, eine gute und eine sichere Adresse sein und bleiben. [...]

Wie immer wir künftig die Einwanderung regeln: Wir müssen gut vorbereitet sein – geistig, politisch und institutionell. Wir müssen darauf vorbereitet sein, dass Menschen kommen, von denen wir etwas erwarten und die von uns etwas erwarten. [...]

Wir brauchen eine neue, gemeinsame Anstrengung für das Zusammenleben in unserem Lande. Wir müssen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und des politischen und staatlichen Handelns umdenken. Wir müssen die Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen, wenn wir sie erfolgreich gestalten wollen – ohne Angst und ohne Träumereien. Gelungene Integration ist in unserem eigenen, vitalen Interesse. Sie mobilisiert Kräfte, die wir für eine gute Zukunft brauchen. [...]

Einwanderung darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Wir brauchen gut durchdachte, praktikable Konzepte, die niemanden überfordern. Wir brauchen den Mut, das Richtige auch dann zu tun, wenn es nicht immer und überall populär ist. [...]

Ich wünsche mir ein vielfältiges und lebendiges Deutschland – friedlich und weltoffen. Daran zu arbeiten lohnt jede Mühe. Es kommt nicht auf die Herkunft des einzelnen an, sondern darauf, dass wir gemeinsam die Zukunft gewinnen.

- Es gilt das gesprochene Wort. -

Rede von Bundespräsident Johannes Rau am 12. Mai 2000 im Haus der Kulturen der Welt (in Auszügen)

Aus: Der Bundespräsident. Reden und Zitate. In: www.bundespraesident.de/ (download vom 16.01.2001)

Arbeitshinweise zur Gesamtrede (als Studienaufgabe):

1. Lese diese Rede sorgfältig durch und arbeite heraus, wie Rau in seiner Rede den Begriff "Integration" fasst!
2. Wer muss was zur Integration beitragen?
3. Wer ist "wir"?
4. Welches "Bild" entsteht vor dem "geistigen Auge" des Lesers bzw. der Leserin im Verlauf der Rede von den in die Bundesrepublik Zugewanderten?Achte auf die Terminologie und den jeweiligen Kontext!
5. Was schließt "kulturelle Vielfalt" ein, was schließt sie nicht ein?
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