M 12.03 "Die deutsche Leitkultur"
 


Ein Zitat:

"Die deutsche Leitkultur muss
bei unseren ausländischen Mitbürgern
entsprechende Akzeptanz finden."

(Günther Beckstein, CSU)

Ohne Leitkultur geht es nicht

Friedrich Merz hat recht: Gerade für die Gestaltung der Zuwanderung brauchen wir das Konzept einer "Leitkultur". Viele Reaktionen auf seine Äußerungen waren nur polemisch und auf Diskreditierung bedacht. Nur vereinzelt wurde sachlich argumentiert. Beinahe allen Kritikern ist jedoch gemeinsam, dass sie offensichtlich keine nähere Vorstellung davon haben, was mit dem Begriff Leitkultur in der Diskussion über Zuwanderung und Integration sinnvoller Weise nur gemeint sein kann.

Auch typisch für unsere öffentlichen Diskussionen: Kaum jemand hat nachgelesen oder nachgefragt, was Merz gesagt hat. Wenn man den Begriff Leitkultur von seiner Funktion und seinen Inhalten her sorgfältig analysiert, besteht nämlich für Polemik nicht der geringste Anlass. So auch meine Erfahrung aus einem Diskussionsprozess über den Begriff der Leitkultur mit islamischen Gruppierungen im letzten Jahr.

Worum geht es also in der Sache? Deutschland braucht mit Blick auf die Zuwanderung und die daraus resultierenden Anforderungen an die Integration eine Leitkultur, die im öffentlichen Zusammenleben für alle gilt und so die Regeln des Zusammenlebens und die Identität unseres Landes sichert. Der Begriff Leitkultur muss dabei als Alternative zum Bild einer "multikulturellen" Gesellschaft gesehen werden, die geprägt ist von unverbundenem Nebeneinander. Wenn verschiedene kulturelle Gruppen in einem Land zusammenleben, sind nämlich Regeln nötig, die für alle gelten und die im Konfliktfall auch bestimmen, was im Einzelfall zu gelten hat und was nicht. Wir brauchen eben etwas mit "Leitfunktion".

Solche Regeln des Zusammenlebens sind in Deutschland Teil einer Leitkultur, die sich inhaltlich, in ihren Wurzeln und ihrer Ausprägung, aus der abendländisch-christlichen Wertetradition entwickelt hat. Zum einen geht es um Vorstellungen staatlicher und gesellschaftlicher Ordnung, die sich in Deutschland, aber auch in Europa auf der Basis der christlich-abendländischen Kultur in jahrhundertelangen Auseinandersetzungen entwickelt haben. Ein großer Teil dieser so bestimmten Leitkultur ist rechtlich, vor allem im Grundgesetz, festgelegt. Zentrale Leitlinien sind beispielsweise: Trennung von Kirche und Staat, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Meinungsfreiheit.

Eine lebendige Zivilgesellschaft ist aber mehr als die bloße Beachtung von Vorschriften. Sie braucht als Grundlage eine Werteorientierung. Die Maßstäbe des Grundgesetzes müssen deshalb im Alltag aktiv gelebt oder zumindest respektiert werden; auch in Situationen, die nicht entsprechend rechtlich geregelt sind.

Rechtliche Bestimmungen müssen deshalb von allen Bürgerinnen und Bürgern auch mit Leben erfüllt werden. Wir brauchen eine bewusste Bejahung und Pflege der damit verbundenen Wertorientierung. Dies ist in einem Zuwanderungsland noch bedeutsamer als in einer Traditionsgesellschaft. Sonst löst sich der für jede Gesellschaft unverzichtbare Traditionsbestand über kurz oder lang auf. Auch hier gilt der vielbeachtete Satz von Böckenförde, dass der Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann. Entgegen mancher Äußerung aus den letzten Tagen ist die Erfüllung dieser Anforderung nicht selbstverständlich. Beispielsweise ist keinesfalls jede Ausprägung des Islam mit den eben genannten Wertvorstellungen des Grundgesetzes vereinbar ­ unter anderem deshalb ist eine Entwicklung zu einem "Euro-Islam" so wichtig.

Anerkennung einer Leitkultur heißt weiter auch Bemühen um Integration. Dazu gehört das Erlernen der deutschen Sprache und das sich Vertrautmachen mit der Geschichte und der Kultur des Landes. Umgekehrt sind aber auch Deutsche gefordert, für kulturelle Bräuche und Vorlieben anderer Verständnis aufzubringen. Integration ist ein gemeinsames Aufeinanderzugehen in Toleranz. Leitkultur umfasst nicht den Bereich kultureller Gebräuche oder von Lebensgewohnheiten. Innerhalb des Rahmens dieser Leitkultur kann jeder "nach seiner Fasson" selig werden.

Wer eine Diskussion über eine Leitkultur bereits im Ansatz verteufelt, ist auch realitätsblind. Nur wenn eine solche Ordnung von allen, die in Deutschland leben wollen, eben auch den Zuwanderern, anerkannt wird, kann die Integration der Ausländer gelingen, die bereits hier leben oder in Zukunft kommen.

(Der Autor Alois Glück ist Vorsitzender der CSU-Fraktion im Bayerischen Landtag und der Grundsatzkommission der CSU)

Aus: Glück, Alois: Ohne Leitkultur geht es nicht. In: Bayernkurier vom 28. 10. 2000. S. 1.

Arbeitshinweise:

1. Beschreibe mit eigenen Worten, was die Autoren unter "Leitkultur" verstehen.
2. Was wirft er den Gegnern der "Leitkultur" vor?
3. Wie stehst Du zu der Forderung nach einer "Leitkultur" in Deutschland?
-> drucken