Auf Rechte und Pflichten muss sich jeder Immigrant verstehen, sonst gehört er wirklich nicht hierher.
Deutschland zeichnet sich durch eine große Vielfalt und gesellschaftliche Spannbreite aus: von verarmten Arbeiterstädten bis hin zu vornehmen Villenvierteln, einfachen Imbissbuden bis zu Austernständen. Der Kitsch eines bayerischen "Märchenkönigs", die schmerzende Erinnerung an den Mordwahnsinn der Nazis, schwarze Kassen, zerstörte Fußballlegenden, der Rummel um "Big Brother", die fiebrige Sucht nach Luxus, das alles ist Deutschland heute.
Hier das tolerante Weltbürgertum, dort der wütende Ausländerhass, der bis zum Totschlag geht. Joschka Fischer stellt die Frage, ob dies ein Land sei, "in dem sich Ausländer vor Diskriminierung und Gewalt fürchten müssten und Juden Antisemitismus und Terror widerfahren könnte". Friedrich Merz rät hingegen zu einer "deutschen Leitkultur". Diesen Rat gibt er auch den Bürgern ausländischer Herkunft wie mir. Ich kann das nur als Anmaßung zurückweisen. Die wenigen Argumente, die er beisteuert, ziehen nicht. Die Zuwanderer, sagt uns Merz, und inzwischen stimmen ihm große Teile der Union zu, müssten sich den in Deutschland gewachsenen kulturellen Grundvorstellungen anpassen.
Aber was ist danach deutsch? Dass Grundgesetz, die Würde der Frau, dass Meinungsfreiheit und Freiheit der Religion geachtet werden und dass Verbrechen strafwürdig sind? Dass wir eine Demokratie haben? Dass man hier die deutsche Sprache spricht? Es bestand überhaupt kein Grund, das abstruse Lied von der Leitkultur anzustimmen. Das sind doch alles Selbstverständlichkeiten. Auf solche Grundrechte und Grundpflichten muss sich jeder Immigrant verstehen, sonst gehört er wirklich nicht hierhin. Die Ausländer unter uns, und erst recht die schon Eingebürgerten, halten sich mit wenigen Ausnahmen allesamt daran. Und wie viel Ausnahmen gibt es unter denen, die schon immer deutsch waren? Gibt es bei denen keine Gewalt gegen Frauen? Keinen Versuch, die Demokratie zu zerstören? Wie viele Deutsche wollen wir eigentlich ausbürgern? Sind nicht die Werte der Aufklärung, des Humanismus, der pluralistischen Demokratie, der Meinungsfreiheit, der Gleichheit der Menschen westliche Werte? Und nicht speziell deutsch?
Wie wohl stellen sich die Vertreter der neudeutschen Leitkultur das Leben in einer EU vor, in der für eine Vielzahl von Nationen Zuzugsrecht nach Deutschland besteht? Was denn, wenn am Ende Hunderttausende aus Portugal kommen oder eine Million Griechen? Werden die alle Konsalik lesen, mit den Herzbuben singen, pausenlos Bratwurst essen? So weit zum Treibhaus des Unsinns.
Leute wie Merz kämpfen gegen die Lebenslüge der Union an, dass diese Republik kein Einwanderungsland sei. Sie verschweigen die Erkenntnis, dass Deutschland ohne Zuwanderung schon jetzt seine Wirtschaft gefährdet und seine Zukunft verspielt. Um ein konkretes Beispiel zu nennen: Es steht nicht überall zum Besten mit den 2,3 Millionen Türken in Deutschland, wenn auch überwiegend gut. Der türkische Beitrag zur Volkswirtschaft, zur Kultur und zur Demokratie dieses Landes ist gewichtig und nicht mehr umzukehren. Es stimmt, dass viele von ihnen, die Einwanderer der ersten Generation, nicht richtig Deutsch gelernt haben und sich am politischen Leben kaum beteiligen. Ich bedauere das. Doch warum ist das so? Es geht um Leute, die nur auf limitierte Zeit geholt worden waren und die dachten, mit etwas Erspartem heimzukehren. Niemand hat ihnen eine Zukunft hier angeboten und Sprachunterricht. Es war deutsche Politik, die dies nicht richtig voraussah und Versäumnisse schuf, die sie heute beklagt.
Statt dessen lese ich just von Angela Merkel, eine multikulturelle Gesellschaft halte sie nicht für funktionsfähig, und es seien die Linken mit dieser Idee gescheitert. Und auch, dass ihr neuer Generalsekretär, Laurenz Meyer, von den in Deutschland lebenden Ausländern verlangt, sich stärker an die hier zu Lande geltenden Regeln anzupassen. Von welch massenhaft registriertem Regelverstoß durch Ausländer wird da getönt? Welche Regeln meint Meyer? Die Straßenverkehrsordnung, das Strafgesetzbuch, die Verfassung? Doch was ist denn eigentlich deutsch? Auf der Suche nach einer Antwort verdränge ich Kant, Lessing, Dürer und Bach. Ich lasse beiseite alle meine Freunde in allen Parteien, den Fleiß und die Sauberkeit dieses Landes, das zu meinem geworden ist. Deutschland gehört nicht mehr allein denen, die unter Wilhelm I. noch wirkten wie ein einzig Volk von Brüdern. Es gehört heute vielen. Denn viele kamen hinzu.
Das ist der Reichtum, den wir begreifen, den wir verwerten müssen. Es bedeutet mehr Vielfalt und mehr Wohlstand. Das verstehe ich unter deutsch: ein Land, das nach vorne geht.
(Der Autor Vural Öger ist geschäftsführender Gesellschafter der Öger Touristikgruppe, Mitgründer der Deutsch-Türkischen Stiftung und Mitglied der Zuwanderungskommission der Regierung.)