Kultur ist unweigerlich ein Raum der Emotionen, der Artikulation und Affektation unserer Sinne, ist ein Raum des Leiblichen und Symbolischen zugleich! Deshalb ist die Frage sinnvoll, wie das, worin wir intellektuell und in gewisser Weise abstrakt übereinstimmen, emotional und symbolisch und leiblich als Bindekraft wirksam wird. Dies ist die eigentlich kulturelle Frage bei unserem Thema.
Die erste Antwort darauf führt zu einem nur vermeintlich konservativen Stichwort. Es geht um den kulturellen Kanon unserer Gesellschaft: Was muss an Bildung, an kulturellem Wissen, an geschichtlicher Erinnerung mindestens vorhanden sein, damit überhaupt so etwas wie Verständigungsprozesse in unserer Gesellschaft möglich sind? Um sich zu verstehen, muss man eine gemeinsame Sprache beherrschen, das heißt aber nicht nur über deren Worte verfügen, sondern auch deren Bedeutungen beherrschen, und die sind nicht gänzlich ohne Geschichte und ohne Kultur zu haben. Die Frage also, was aus Geschichte und kultureller Herkunft wichtig ist für gegenwärtige Verständigungsmöglichkeiten, wird wieder drängender. Könnten wir sie beantworten, ohne uns allzu sehr auf einen starren, gänzlich unbeweglichen, unveränderlichen Kanon zu fixieren, sie vielmehr diskutieren als eine Frage unserer Identität, bei der es um ein gelassenes Selbstbewusstsein unserer selbst geht, um eine Identität, die nicht allein und nicht zuvörderst auf die Abgrenzung von anderem und anderen angewiesen ist!
Zum Zweiten geht es um emotionale Ausdrucksmöglichkeiten, in denen wir uns wie selbstverständlich, also ohne Zwang und ohne Scham und ohne Zwiespalt als "Gemeinschaft" wieder erkennen können. Blicken wir auf unsere Nachbarn. Was treiben zum Beispiel die US-Amerikaner, die, kaum erklingt ihre Nationalhymne, sich erheben und ihre Hand auf ihr Herz legen? Warum wäre uns das (wohl) peinlich, den Amerikanern ist es aber selbstverständlich? Oder die Briten: Mit welcher Selbstverständlichkeit singen sie während des jährlichen Sommerabschlusskonzerts "The Last Night Of The Proms" durchaus imperiale Lieder mit ("Rule Britannia . . .")? Sie singen es leidenschaftlich und zugleich mit einer gewissen ironischen Distanz, so dass ich als ausländischer Zuschauer keinerlei Ängste bekommen muss. Es ließen sich ebensolche Beispiele aus Frankreich oder Italien oder Polen erzählen und mit der Frage verbinden: Warum können unsere Nachbarn ihrer kollektiven Identität so emotional Ausdruck verleihen und wir nicht? Warum haben sie eine kulturelle Tradition und Ausdrucksform dafür, und wie sollte sie bei uns Deutschen aussehen, wenn wir denn ein Bedürfnis danach empfinden? Dass es dieses Bedürfnis auch bei uns gibt, ist schwerlich zu bestreiten. Ihm nachzukommen fällt uns angesichts unserer durch die Nazis verdorbenen nationalen Geschichte verständlicherweise viel schwerer als unseren Nachbarn.
Aber unsere Geschichte lehrt auch: Unbefriedigtes Bedürfnis sucht sich verquere, ja gefährliche Formen seiner Befriedigung. Deshalb sollten wir uns, nachdem wir Deutschen nun staatlich vereinigt sind, dieser Frage neu stellen. Welche Zeichen, welche Symbole, welche Gesten haben wir für unseren Verfassungspatriotismus? Wie können wir den uns verbindenden normativen Konsens auch emotional und sinnlich bildhaft ausdrücken? Von oben angeordnet und kommandiert werden kann und darf dabei nichts. (Wie sehr das schief gehen kann, zeigt die Geschichte der DDR.) Aber zulassen und gewähren lassen sollte man schon.
In diesem Zusammenhang sei zum Dritten an etwas Vergessenes erinnert: Zu Zeiten der staatlichen Spaltung der Nation war der Begriff der Kulturnation einigermaßen selbstverständlich. Wir Deutschen, so die Überzeugung damals, sind zwar staatlich gespalten, politisch getrennt, aber wir gehören dennoch zusammen, und was uns verbindet, das ist die Kultur. Gilt diese Überzeugung nun gar nichts mehr? Wo wir nun eine Staatsnation geworden sind, in Grenzen leben, zu denen alle unsere Nachbarn ja gesagt haben, bedürfen wir nun des Bandes der Kultur gar nicht mehr, ist der Begriff der Kulturnation also überflüssig, gar gefährlich geworden, wie manche in Erinnerung an problematische deutsche Debatten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts behaupten? Ich glaube nicht. Was aber Kulturnation heute sein könnte, darüber sollten wir diskutieren, ohne in alte deutsche Ausgrenzungsmechanismen zurückzufallen.
Und damit bin ich viertens bei dem, was nach meiner Überzeugung die eigentliche und besondere Leistungsfähigkeit der deutschen Kultur ausmacht: In den glücklichen und großen Phasen der deutschen Kulturgeschichte hat unsere Kultur eine besondere Integrationskraft bewiesen; in der Mitte des Kontinents hat Deutschland in immer neuen Anstrengungen und geglückten Symbiosen Einflüsse aus West und Ost, Süd und Nord aufgenommen und sie zu eigener Kultur geformt. Darauf können wir kulturelles Selbstbewusstsein gründen, genau darin, in dieser Leistung hat unser größtes künstlerisches Genie, nämlich Goethe, zu Recht Weltgeltung erlangt.
Auf diese Geschichte und Tradition der kulturellen Integration sollten wir heute aufbauen, sie gilt es fortzusetzen. Dies wäre ein Begriff von deutscher Kultur, der nicht der Aus- und Abgrenzung bedarf, der nicht ein Begriff der kulturellen Feindschaft und Abwehr ist. Das wäre eine Tradition eines selbstbewusst-gelassenen, also europäisch-normalen Umgangs mit der eigenen kulturellen Identität, die sich nicht zurückdrängen und fixieren lässt auf die Ängste des Identitätsverlusts, sondern auf Aufnahmebereitschaft und kulturelle Bereicherungsneugier. Wir haben also Stoff genug für eine Kultur- und Identitätsdebatte, die nicht mit Ängsten spekuliert und auf Vorurteile setzt!
von Wolfgang Thierse (SPD), Bundestagspräsident