Eine optimistische Perspektive
Die Grundfunktion der Wahl in der Demokratie ist darin zu sehen, daß sie das Medium ist, durch welches die Selbstregierung des Volkes verwirklicht wird. Die Wähler bestimmen Männer und Frauen ihres Vertrauens, die für sie die Staatsgewalt handhaben, die in ihrem Namen und Auftrag ‘regieren'. Die Wahl ist der ‘Grundvorgang des Verfassungslebens, auf dem alles andere aufbaut': sie verleiht dem Parlament die erforderliche Legitimität, durch sie wird die Volksvertretung und jeder einzelne Abgeordnete ermächtigt, für die Gemeinschaft zu handeln (...) Regelmäßige Wahlen bilden daher ein Kernstück jeder demokratischen Verfassungsordnung. Ohne sie ist eine demokratische Herrschaftsausübung, ist Demokratie ausgeschlossen.
(aus: A. Jüttner: Wahlen und Wahlrechtsprobleme. Geschichte und Staat, Bd. 137, München/Wien 1970, S. 8 f.)
Eine kritische Perspektive
Die Verselbständigung der politischen Institutionen (vor allem der Parteien und des Parlaments) von ihren nominellen Trägern, dem Wahlvolk, verkehrt den Sinn und die Bedeutung von Wahlen: aus einer Demonstration des politischen Willens der Staatsbürger und der Bestimmung ihrer Interessenvertretung wurden sie weitgehend zu Manipulationsveranstaltungen von Parteien, die mit den Methoden des wirtschaftlichen Marktes um die Zustimmung der Wähler konkurrieren und ihre Waren mit Reklametricks und Werbemethoden dem Verbraucher anbieten. (...) Die ideologische [Verklärung] des Wahlaktes verdeckt seine sinkende praktische Bedeutung, seine Wandlung von einem Akt politischer Mitbestimmung in eine formale Veranstaltung und seine reale Machtlosigkeit trotz des Scheins der Macht. Politische Theorie, die mit dem zynischen Argument auftritt, auch bei politischer Apathie der Wähler funktionierten doch die politischen Institutionen, dient (...) der Verschleierung eines Systems, in dem Demokratie zur ideologischen Fassade geworden ist, hinter der sich der Herrschafts- und Machtvollzug der ‘power-elite' von Kontrolle und Einfluß durch das Wahlvolk weitgehend unberührt abspielt.
(aus: U. Schmiederer: Wählerverhalten, in: W. Abendroth / K. Lenk (Hrsg.): Einführung in die politische Wissenschaft, Bern/München 1968, S. 352.)
Eine realistische Perspektive
Für eine realistische Einschätzung der Vorzüge und Nachteile unserer parlamentarischen Demokratie sind einige Grundeinsichten nötig. So ist die Vorstellung vom ‘Volk' oder von der ‘Gesellschaft' als Subjekt einer einheitlichen Vernunft und eines einheitlichen Willens eine gefährliche Chimäre, die uns Rousseau aufgebunden hat. ‘Das Volk' oder ‘die Gesellschaft' ist - zumindest in normalen Zeiten - keineswegs ein konkordanter Verein, sondern eine Pluralität von Interessengruppen mit unterschiedlichen Wertvorstellungen, unterschiedlichen Lösungskonzepten. (...) Auch in einer Basis-Demokratie hat nicht jedes Mitglied der Gesellschaft dieselben Interessen und denselben politischen Einfluß. In basisdemokratisch verfaßten kleinen Gemeinwesen kommt es normalerweise zur Ausbildung von informellen Herrschaftsstrukturen, insbesondere zur unkontrollierten Machtausübung von Meinungsführern, die über besondere manipulative Fähigkeiten verfügen, niemandem verantwortlich sind und nicht abgewählt werden können. (...) Eine direktdemokratische Entscheidung aller politischen Probleme ist in einer Großgesellschaft ohnehin praktisch unmöglich. Demokratie in einer Großgesellschaft kann im wesentlichen nur über die Wahl von Repräsentanten mit zeitlich begrenztem freien Mandat realisiert werden. (...) Eine repäsentative Bürger-Demokratie ist in erster Linie ein System zur Vermeidung oder Begrenzung des Unheils, das durch unabsetzbare politische Führer angerichtet werden kann. Wen wir wählen, wissen wir zwar im voraus nie so genau. Die Möglichkeit der Abwahl von Politikern ist jedoch ein unschätzbarer Vorteil unseres politischen Systems, auch wenn dabei die Geduld mancher Bürger gelegentlich strapaziert werden mag.