M 02.04 Volkssouveränität: direkte Demokratie oder Repräsentativsystem
 


Fragt man nach den einzelnen Elementen, aus denen ein demokratisches Gemeinwesen aufgebaut ist, dann stößt man auf den Satz, daß Demokratie Herrschaft des Volkes sei. (...) Daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, bedeutet freilich nicht, daß das Volk auch selbst regiert und bei allen Einzelheiten der politischen Entscheidungen mitwirkt, selbst wenn das in der formalen Konsequenz des demokratischen Gedankens läge. Nur auf diese Weise ließe sich ja verwirklichen, daß der Bürger allein seinen eigenen Gesetzen und Befehlen gehorchen müßte und insofern wirklich frei bliebe. Aber diese Identität der Regierenden und Regierten hat es im strengen Sinne des Wortes nie wirklich gegeben, obwohl die historischen Frühformen der Demokratie im antiken Griechenland an Modellen einer "direkten Demokratie" orientiert waren und noch Rousseau nur diese als Demokratie gelten lassen wollte. Doch die direkte Demokratie war nur unter zwei Voraussetzungen denkbar.

Einmal mußte es sich um einen sozial homogenen, kleinen, überschaubaren Staat, in der Regel einen Stadtstaat, handeln, so daß alle Bürger an einem Ort sich versammeln und miteinander diskutieren und Beschlüsse fassen konnten. Dies Erfordernis veranlaßte Aristoteles dazu, als ideale Größe eines Staates denjenigen Bereich festzulegen, den die Stimme eines Ausrufers gerade noch durchdringen könnte. Daneben aber galt als Voraussetzung der direkten Demokratie eine enge Begrenzung und klare Übersichtlichkeit der Staatsaufgaben. Der einzelne Bürger kann ja nur über Fragen mitentscheiden, die er wirklich zu beurteilen und in ihren Konsequenzen zu erkennen vermag. Das mochte im Rahmen einer Stadt oder eines Schweizer Landkantons, wo fast jeder jeden kennt, in den vorindustriellen Zeiten mehr oder weniger unabhängiger Kleinstaaten noch angehen. Im modernen Großflächenstaat aber sind solche Voraussetzungen nicht mehr gegeben. (...)

Wenn so aus äußeren und inneren Gründen die Regierung des Volkes durch das Volk in unserer Zeit eine Unmöglichkeit ist, dann bleibt als Konkretisierung der Volkssouveränität vor allem die Wahl von Vertretungskörperschaften oder Repräsentanten, die dann die Regierung nach dem Willen des Volkes und mit seiner Zustimmung verantwortlich führen. Die Entscheidung der detaillierten Sachfragen wird gewählten Vertretern überlassen; der Wähler hat nur zwischen den ihm von den Parteien präsentierten Kandidaten zu entscheiden und diejenigen auszuwählen, von denen er in der Regel aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit glaubt, daß sie die Politik im Sinne seiner Überzeugung und Interessen führen werden. Wer freilich durch den Akt der Wahl dem Willen des Volkes Geltung verschaffen und so die Wahl zum entscheidenden Instrument einer Konkretisierung der Volkssouveränität machen will, muß gewisse unabdingbare Forderungen stellen.

(aus: W. Besson/G. Jasper: Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 300, überarb. und aktual. Neuausgabe, Bonn 1990, S. 23ff.)
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