M 02.05 Voraussetzungen und Funktionen der Wahl
 


Voraussetzungen der Wahl

Jede Wahlentscheidung setzt eine Auswahl voraus. Nach allgemeinem Sprachgebrauch heißt wählen, zwischen mehreren tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten sachlicher oder personeller Art zu entscheiden. Es müssen verschiedene miteinander konkurrierende Personen, Personengruppen (Parteien) und Sachprogramme vorhanden sein, zwischen denen der Wähler eine Auswahl treffen kann. Ist eine Konkurrenzsituation nicht gegeben, liegt kein Wahlakt, sondern allenfalls eine Akklamation im Sinne einer totalen Zustimmung vor. Die der Wahl innewohnende Konkurrenz setzt freilich gleiche Chancen aller um die Gunst des Wählers wetteifernden Personen und Gruppen voraus.

Das heißt, jede Person, jede Partei und jedes Sachprogramm müssen im Grundsatz in der Lage sein, sich in der Konkurrenz mit- und gegeneinander durchzusetzen. Wo das nicht möglich ist, kann man von Wahlen nicht sprechen. Versteht man unter Wahl eine Auswahl unter mehreren Möglichkeiten, so gehört dazu auch die Wahlfreiheit des Wählers. Er muß sich frei, d.h. eigenverantwortlich und ohne Druck oder Zwang entscheiden können. Um die gewählten Repräsentanten an den Willen ihrer Wähler zu binden, ist zudem unverzichtbar, daß sie sich in periodischen Abständen erneut zur Wahl stellen müssen, so daß die Wähler die Möglichkeit behalten, ihre einmal getroffene Entscheidung zu überprüfen, zu erneuern oder zurückzunehmen. Nur dadurch können die Gewählten genötigt werden, die Überzeugungen und Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler zu respektieren.

Funktionen der Wahl in einem repräsentativen Regierungssystem

Die Wahl gibt den Bürgern die Möglichkeit zur Teilnahme an der politischen Willensbildung. Unter den verschiedenen Mitwirkungsformen des Bürgers in der Demokratie sind die Wahlen die allgemeinste und die wichtigste: die allgemeinste, weil alle Staatsbürger daran teilhaben können, und die wichtigste, weil es in den Wahlen um politische Macht geht. Durch ihre Stimmabgabe beeinflussen die Wähler die Zusammensetzung der Volksvertretung und damit (indirekt) die Auswahl des politischen "Führungspersonals" und die programmatische Ausrichtung der künftigen Regierungspolitik.

Durch die Wahlentscheidung soll eine klare Mehrheit im Parlament geschaffen werden, aus der eine handlungsfähige Regierung hervorgeht. Die gewählte Mehrheit ist berechtigt (legitimiert) und beauftragt (autorisiert), für eine begrenzte Zeit die Regierung zu führen, für die Gesamtheit der Staatsbürger verbindliche Entscheidungen zu treffen und Macht auszuüben. Wahlergebnisse sind Handlungsauftrag und Machtzuweisung auf Zeit.

Während die gewählte Mehrheit zur befristeten Machtausübung befugt ist, übernimmt die Minderheit die wichtige Rolle der Opposition. Wahlen sollen nicht nur für eine handlungsfähige Regierung, sondern ebenso für eine starke Opposition sorgen. Deren Aufgabe ist es, die Regierung zu kontrollieren, indem sie die Mehrheitspartei(en) ständig zwingt, ihr politisches Handeln vor der Öffentlichkeit zu erläutern und zu begründen. Die regierende Mehrheit kann sich der Pflicht, Rechenschaft abzugeben, nicht entziehen, wenn sie das Vertrauen und die Zustimmung ihrer Wählerinnen und Wähler nicht verlieren will.

Ist es in der Zeit zwischen den Wahlen in erster Linie Aufgabe der Oppositionspartei(en) und der öffentlichen Meinung, die Regierung zu kontrollieren und darüber zu wachen, daß die durch Wahlentscheidung übertragene Macht nicht mißbraucht wird, so erhält das Volk in der Wahl unmittelbar eine Möglichkeit der Machtkontrolle. Die Wähler können ihre einmal getroffene Wahlentscheidung bestätigen, wenn sie mit der Regierung und der von ihr vertretenen Politik einverstanden sind, oder sie können ihre Entscheidung korrigieren und damit die Machtzuweisung und den Handlungsauftrag an die Parteien ändern, wenn das nicht der Fall ist. Periodische Wahlen sollen die Chance des Machtwechsels offenhalten und dafür sorgen, daß die Regierung den Wählern verantwortlich bleibt.

(Vgl. W. Gensior / V. Krieg: Kleine Wahlrechts-Fibel. Wahlrecht und Wahlverfahren in der Bundesrepublik Deutschland und im Lande Nordrhein-Westfalen, 4. Aufl., Leverkusen-Opladen 1984, S. 16 ff., und W. Besson / G. Jasper: Das Leitbild der modernen Demokratie. Bauelemente einer freiheitlichen Staatsordnung. Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung Bd. 300, überarb. und aktual. Neuausg., Bonn 1990, S. 25.; D. Nohlen: Artikel "Wahlen/ Wahlfunktionen" in: U. Andersen/ W. Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997, S. 597 ff.)
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