M 02.10 Wahlrechtsgrundsätze in der Entwicklung
 


Bei den Wahlen zur Nationalversammlung 1848 wurde in Deutschland erstmals ein - nach damaligen Maßstäben - annähernd allgemeines Wahlrecht praktiziert. Die Wahl blieb "freilich begrenzt auf die volljährigen selbständigen männlichen Staatsangehörigen. (...) In der Regel behandelten die Landeswahlgesetze [der deutschen Einzelstaaten] jemand als unselbständig, der Armenunterstützung bekam, keinen eigenen Hausstand unterhielt und der zu Kost und Lohn in einem abhängigen Dienstverhältnis stand, also den großen Teil der ‘handarbeitenden Klassen'. Wurden diese Bestimmungen streng gehandhabt wie in Sachsen, Hannover und Baden, blieben auch das ländliche Gesinde sowie die im Hause des Meisters wohnenden Handwerksgehilfen ausgeschlossen, insgesamt bis zu 25% der volljährigen Männer." (aus: W. Siemann, Die deutsche Revolution von 1848/49, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a.M. 1985, S. 84f.)

Bis 1918 war es für die herrschende Staatslehre in Deutschland eine ausgemachte Sache, daß Frauen keine politischen Rechte haben könnten. So erklärte beispielsweise der preußische Historiker und Staatsrechtler Heinrich von Treitschke (1834-1896): "Man erkennt, daß unsere germanischen Vorfahren von gesundem Sinne gewesen sind, wenn sie die Weiber von der Regierung ausgeschlossen haben. ... Obrigkeit ist männlich; das ist ein Satz, der sich eigentlich von selbst versteht. Von allen menschlichen Begabungen liegt keine dem Weibe so fern wie der Rechtssinn. Fast alle Frauen lernen, was Recht ist, erst durch ihre Männer." (Zit. nach B. Schenkluhn, Wahlen in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart 1987, S. 24.) Als im Berliner "Verein zur Vertretung der Arbeiterinneninteressen" 1895 die Forderung nach dem Frauenstimmrecht erhoben wurde, erschien in der Zeitschrift "Nation" eine Erwiderung, in der es hieß: "Lassen Sie (..) die Frau in ihrer eigensten Berufssphäre, da, wo der Reichtum des warmen Gemüts zur Geltung kommt, während sich der kalte Verstand des Mannes draußen abmüht; sei es im Parlament, sei es außerhalb desselben". (ebd.) - Frauen durften in Deutschland erstmals an den Wahlen zur Weimarer Nationalversammlung 1919 teilnehmen. In Frankreich wurde das Frauenwahlrecht erst mit der Verfassung von 1946, in der Schweiz auf Bundesebene erst 1971 eingeführt.

In den Vereinigten Staaten von Amerika garantiert eine Verfassungsbestimmung von 1870 (Zusatzartikel 15) allen Bürgern, ungeachtet der Rasse oder Hautfarbe, das Wahlrecht. In einigen Bundesstaaten war es allerdings noch lange Zeit üblich, von schwarzen Wählern eine "Intelligenzprüfung" zu verlangen, wodurch die Wahlbeteiligung der schwarzen Bevölkerung gesenkt wurde. Diese Praxis wurde durch das Wahlrechtsgesetz von 1965 verboten. (Vgl. J. Raschke, Wie wählen wir morgen?, 4. erg. Aufl., Berlin 1969, S. 7.)

In Preußen wurde durch Verordnung vom 30. Mai 1849 für die Wahlen zum Abgeordnetenhaus das Dreiklassenwahlrecht eingeführt, das bis 1918 gültig blieb: Jeder Wahlkreis umfaßte mehrere "Urwahlbezirke". In jedem Urwahlbezirk wurde das gesamte Steueraufkommen durch drei geteilt. Die Wahlberechtigten wurden in drei Abteilungen/Klassen aufgeteilt, die jeweils ein Drittel der gesamten Steuersumme entrichteten, zahlenmäßig aber völlig ungleich besetzt waren. In der ersten Abteilung befanden sich die wenigen Höchstbesteuerten (1913: 4,4 % der Wahlberechtigten), in der zweiten Klassen waren wenige Bürger mit höherem Steueraufkommen (15,8 %) zusammengefaßt, in der dritten Klasse die Masse der übrigen Wähler (79,8 %), auch diejenigen, die keine Steuern zahlten. Jede Abteilung wählte die gleiche Zahl von Wahlmännern. Die Stimmabgabe war offen. Die Wahlmänner traten auf Wahlkreisebene zusammen, um den Abgeordneten zu wählen. Sie waren dabei an Weisungen der Urwähler nicht gebunden. (Vgl. J. Raschke, Wie wählen wir morgen?, 4. erg. Aufl., Berlin 1969, S. 8 f. und Th. Bartholomé/ L. Letsche, Wie gerecht sind Wahlverfahren? Tübingen 1990, S. 31 ff.)

Ein Beispiel für "Wahlkreisgeometrie" liefert das Deutsche Reich bis 1918: Die Wahlkreiseinteilung erfolgte auf der Grundlage einer Volkszählung von 1864. Auf je 100.000 Einwohner sollte ein Abgeordneter kommen, jedem Land stand mindestens ein Abgeordneter zu. Trotz starker Bevölkerungszunahme in den Städten und Industriebezirken wurde die Wahlkreiseinteilung nicht geändert. 1912 kam z.B. in Schaumburg-Lippe ein Abgeordneter auf 10 709 Wähler, im Wahlkreis Berlin-Nord-Nordwest aber auf 219 782 Wähler. (aus: J. Raschke: Wie wählen wir morgen? 4. erg. Aufl., Berlin 1969, S. 9.)

Aus Ostpreußen wird folgende Anekdote berichtet: Vor der Wahl versammelte der Gutsherr das Gesinde des Wahlkreises um sich. "Und daß mir keine rote (d.h. SPD-)Stimme dabei ist! Ist bei der Auszählung keine rote Stimme dabei, dann gibt}s Freibier für alle!" Der Gutsherr konnte sich bei offener Abstimmung am Wahltage davon überzeugen, daß niemand SPD gewählt hatte. Da er nicht gewillt war, Freibier auszuschenken, gab er schließlich selbst die "rote Stimme" ab ...(aus: Informationen zu politischen Bildung 135: Bundestagswahl 1969, Bonn 1969, S. 7.)

In Südafrika galt bis April 1994 gemäß der Verfassung von 1984 ein Dreiklassenwahlrecht, das getrennte Wahlen der Weißen, Mischlinge und Inder für die drei ebenfalls nach Rassen getrennten Kammern des Palaments vorsah: Die Weißen wählten das House of Assembly (178 Mitglieder), die Mischlinge das House of Representatives (85 Mitglieder) und die Inder das House of Delegates (45 Mitglieder). Mit der neuen Verfassung wurde das allgemeine Wahlrecht in Südafrika eingeführt. Die schwarze Bevölkerungsmehrheit war im südafrikanischen Parlament nicht vertreten.

-> drucken