M 02.15 Wahlrecht schon mit 16 Jahren?
 


Pro: Margit Gerste

Seit 1970 dürfen auch 18jährige wählen. Würde heute noch jemand diese sozialliberale Reform für unsinnig oder gar für gefährlich halten? Bestimmt nicht. Und doch werden in der heutigen Diskussion um eine erneute Reform des Wahlrechts alle Argumente von damals wieder hervorgekramt. Es heißt: 16- bis 17jährige seien politisch unreif, noch nicht fähig, ein vernünftiges Urteil zu fällen in einer Welt, die immer komplizierter werde; sie könnten Parteien nicht unterscheiden, sie seien wirtschaftlich unselbständig, trügen noch keinerlei Verantwortung; sie neigten womöglich extremen Parteien zu.

Ein besonders beliebtes Gegenargument war damals und ist heute: Wer wählen will, der muß auch volljährig sein und den muß auch, wenn er straffällig wird, die volle Härte des Gesetzes treffen können. Dieses Junktim hat das Parlament schon 1970 verneint. Es hat erst fünf Jahre später das Alter für die zivilrechtliche Mündigkeit herabgesetzt, von 21 auf 18 Jahre. Das Recht für Jugendliche bis 18 Jahre können Richter auch auf Heranwachsende bis 21 anwenden. Und überhaupt: Werden Erwachsene, werden "reife" Menschen für ihre Stimme etwa haftbar gemacht? Zum Glück nicht. Für das Wahlalter, also die gleichwertige Integration in die Demokratie und ihre Entscheidungsprozesse, ist vor allem eine politische Frage ausschlaggebend: Haben Jugendliche, also auch 16- und 17jährige, bestimmte existentielle Interessen, von denen sie zu Recht behaupten, daß Erwachsene sie nur unzulänglich oder gar nicht vertreten?

Das kann man wohl sagen! Von den Jungen selber werden immer wieder drei Politikbereiche genannt, die ihr Leben, ihre Zukunft in ganz besonderem Maße bestimmen: Umwelt, Bildung und die zunehmende Überalterung der Gesellschaft, in der sie sich immer stärker in eine Minderheitenposition gedrängt sehen. (...) Daß 16- und 17jährige Jungwähler nicht zu fragwürdigen Eskapaden neigen, haben sie bei der Kommunalwahl in Niedersachsen bewiesen. Demokratie als Herrschaft des Volkes muß den Ausschluß aus dem Wahlgeschehen sorgfältigst begründen. Das war und ist in ihrer Geschichte nicht die Regel; statt dessen: Vorurteile, Diskriminierung und das Konservieren von Privilegien. (...)

Die Wahlrechtsreform von 1970 entsprach nicht nur der Programmatik Willy Brandts - "mehr Demokratie wagen"-; sie sollte die revoltierende Jugend integrieren. Später trat sie dann den "Marsch durch die Institutionen" an. Heute gibt es das umgekehrte Problem, und es ist nicht weniger dramatisch. Es interessiert sich doch niemand für uns, klagen Jugendliche und: Brauchen die uns überhaupt? Resignation und Entfremdung machen sich breit. Der Streit um das Wahlalter wäre nicht so wichtig, wenn es nur um die Entdeckung ginge: Jugendliche werden heute zwei Jahre früher erwachsen. Politisch brisant wird er, weil die Kluft zwischen allen Parteien und Jugendlichen mehr oder weniger riesig geworden ist. Wer aber die partizipatorische Demokratie wirklich am Leben erhalten und die Parteienwelt bewahren will, der muß Konsequenzen daraus ziehen, daß junge Leute ihr immer fremder werden. Eine gründliche Korrektur muß her, das Wahlalter 16 wäre ein Angebot und nur der Beginn.


Contra: Hans Schueler

Wo immer der Gesetzgeber Rechte, Pflichten oder Verantwortlichkeiten eines Menschen von dessen Lebensalter abhängig macht, unternimmt er einen Akt der Willkür. Das ist im Grunde unvermeidlich, weil das Gesetz Biographien dem Zwang formaler Gleichheit unterwerfen muß. (...) Willkürliche Altersbegrenzungen oder Jugendermächtigungen sind nicht zu umgehen; sie sollen nur eine gewisse Rationalität des Ermessens der damit betrauten Politiker und Parlamente für sich haben. Vereinfacht ausgedrückt: Wenn der Gesetzgeber halbe Kinder wählen läßt, müssen nicht sie, sondern er gute Gründe dafür geltend machen. Bei der jetzt erneut in die Diskussion geratenen Herabsetzung der Wahlaltersgrenze und sei es zunächst nur für Kommunalwahlen - mangelt es daran aber ganz und gar. (...)

Horst Eylmann, Vorsitzender des Rechtsausschusses im Bundestag, hat in anderem Zusammenhang ganz allgemein auf die "Tendenz zur Bagatellisierung des Wahlakts" hingewiesen. Sie ist unverkennbar. Wenn Kinder wählen dürfen, weil sich die Alten davon einen Stimmgewinn erhoffen, kann es auch erlaubt sein, daß Väter und/oder Mütter so viele Kreuze auf ihrem Stimmzettel machen, wie die Kopfzahl ihres Nachwuchses zuläßt. Wahlrechtsreformer verlangen das inzwischen ebenso wie ein Kinderwahlrecht auf den richtigen Spielplatz. Aber weshalb soll man sich noch darüber aufregen, daß ein Jungspund das Wahlrecht bekommt, obwohl er aus Altersgründen noch nicht strafmündig ist?

(aus: Die Zeit 45/1996).

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