Da jeder Wähler zwei Stimmen hat, ermöglicht dies das Stimmen-Splitting, d.h. der Wähler kann seine Erststimme einem Wahlkreiskandidaten geben, für dessen Partei er sich nicht auch bei der Vergabe der Zweitstimme entscheidet. Zwar wählen 90% der Wähler mit der Erststimme den Wahlkreiskandidaten und mit Zweitstimme die Landesliste ein und derselben Partei. Die 10% Abweichler oder Stimmen-Splitter, die sich wahltaktisch verhalten, nehmen jedoch großen Einfluß auf das Wahlergebnis. Nicht zu Unrecht ist behauptet worden, daß das Stimmen-Splitting die Bildung von Koalitionsregierungen mitbestimmt.
Nicht bestätigt wurden jedoch die Erwartungen der Verfassungsväter hinsichtlich der Personenwahl. In der modernen Demokratie, in der politische Willensbildung ohne die politischen Parteien nicht denkbar ist, sind Wahlen in Einerwahlkreisen zuallererst Parteiwahlen. Entscheidend ist also nicht die Person oder wer kandidiert, sondern die Partei oder für welche von ihnen kandidiert wird. Welche geringe Rolle die Personenwahl bei der Motivation des Stimmen-Splitting spielt, zeigt eine Infas-Umfrage aus dem Jahre 1983, in der die Wähler die Gründe für das Stimmen-Splitting angegeben haben. Im Vordergrund stehen die Absicht, absolute Mehrheiten zu verhindern und koalitionspolitische Überlegungen.
Die Häufigkeit des Stimmen-Splitting unterscheidet sich zunächst nach Parteien. Stimmen-Splitting ist bei den großen Parteien wesentlich geringer als bei den kleinen Parteien. Dieser Tatbestand ist allzu natürlich, da die Wahlkreiskandidaten der kleinen Parteien keine Chance haben, direkt gewählt zu werden, die Wähler, die mit der Zweitstimme eine kleine Partei wählen, zu einem guten Teil aber darüber mitentscheiden wollen, welcher Kandidat das Wahlkreismandat gewinnt.
Die Koalitionsorientierung des Stimmen-Splitting wird besonders deutlich bei der F.D.P. Je nachdem, mit welcher der großen Parteien sich die Liberalen in einer Koalition befinden, verhalten sich auch mehrheitlich die F.D.P.-Zweitstimmenwähler hinsichtlich ihrer Erststimme. Beispielsweise betrug das Verhältnis der Stimmen-Splitter der Liberalen 1961 zu Zeiten einer CDU/CSU -F.D.P.-Koalition 3:1 für die CDU/ CSU, 1972 hingegen während der sozial-liberalen Koalition 6,7:1 für die SPD. Betrachtet man die Erststimmen der F.D.P. als liberale Stammwählerschaft, was nicht ganz unproblematisch ist, so konnte sie in den vergangenen Bundestagswahlen nur durch die sog. Leihstimmen von SPD oder CDU überleben bzw. die 5%-Hürde überspringen. (So gaben 1987 nur 2,57% der Wähler der F.D.P. beide Stimmen, 3,33% den Grünen).
Koalitionswechsel der F.D.P. ziehen den Austausch der Leihwählerschaft nach sich. Die koalitionspolitische Bedeutung des Stimmen-Splitting ergibt sich daher, daß Wähler, die mit ihrer Erststimme eine der beiden großen Parteien wählen, ihre Zweitstimme für den kleineren Koalitionspartner abgeben und somit zu dessen Überleben beitragen, welches Mehrheiten im Parlament erst ermöglicht. Hier verknüpfen sich also Stimmen-Splitting und Fünf-Prozent-Klausel zu einem Bezugsrahmen, der das Wahlverhalten einer kleinen, aber wichtigen Wählerschaft mitbestimmt.