M 05.08 Wahlverhalten: Faktor Konfliktlinien
 


Als langfristige Bestimmungsfaktoren von Wahlverhalten kommen bis heute der sozialstrukturellen Verankerung der Wählerschaft sowie deren Konfessionsbindung Bedeutung zu. So kam der SPD 1987 die Mehrheit der Stimmen aus der Arbeitnehmerschaft zugute, während die CDU/CSU vor allem Stimmen aus den Berufsgruppen der leitenden Angestellten, Beamten und Selbständigen auf sich vereinigen konnte. Noch deutlicher wird dieses Wahlverhalten entlang der sozialstrukturellen Konfliktlinie (cleavage) zwischen Arbeit und Kapital bzw. sozialstaatlicher Umverteilung und marktwirtschaftlicher Orientierung, wenn das Kriterium der Gewerkschaftsmitglieder hinzugezogen wird. Danach wählten 1987 gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmer, Angestellte und Beamte überdurchschnittlich häufiger die SPD als nichtorganisierte.

Noch immer prägend für die Wahlentscheidung ist - trotz zunehmender Säkularisierungstendenzen - der konfessionelle cleavage. Bei der Bundestagswahl 1987 entschieden sich Katholiken überdurchschnittlich für die CDU/CSU (48,1%), während Protestanten überdurchschnittlich für die SPD (45,2%) votierten. Die Bedeutung des cleavage tritt noch deutlicher zutage, wenn die Konfessionsbindung über die Kirchgangshäufigkeit operationalisiert wird. Die Stimmenanteile katholischer Wähler mit starker Konfessionsbindung für die CDU/CSU betrug 70%, der für die SPD 19%, während nur 27% der nichtkatholischen Wähler mit starker Konfessionsbindung ihre Stimme der SPD gaben, aber immerhin 51 % der CDU/CSU. Diese cleavages können auf der Wählerebene ihre Entsprechung als parteibezogene Wertorientierung finden und zu einer persönlichen Bindung der Wähler an von ihnen bevorzugte Parteien führen. Diese langfristig angelegte Parteiidentifikation wirkt dabei wie ein Filter, der die Wahrnehmung und Bewertung politischer Themen und Ereignisse strukturiert. Die Daten von 1987 zur Parteiidentifikation für die einzelnen Parteien zeigen dabei folgendes Bild: CDU/CSU (32,9%), SPD (24,7%), FDP (2,2%), Grüne (5,5%). Der Anteil der Befragten, die sich mit keiner Partei identifizieren betrug 25,2 %; 9,5 % machte keine Angaben. (...)

Sowohl der Wandel in politischen Einstellungen, der sich im Bedeutungszuwachs postmaterieller Werte widerspiegelt, als auch veränderte Verhaltensweisen, die das Repertoire politischer Partizipation um unkonventionelle Formen erweitern, ließen neue grundlegende politische Werthaltungen entstehen, die manche Autoren veranlaßten von einer neuen, dritten Konfliktlinie im Wahlverhalten der BRD auszugehen. Dies liegt quer zur sozioökonomischen Konfliktlinie und ist durch das Gegenüber der Präferenzen von ökologischer Politik und ökonomisch-technologischem Wachstum gekennzeichnet. Dabei gelang es den Grünen, als parteiorganisatorischem Ausdruck der ökologischen und anderen neuen sozialen Bewegungen die institutionelle Barriere der 5%-Hürde zu überwinden, wodurch sich das Parteiensystem der BRD in den 80er Jahren in ein bipolares, in zwei politische Lager aufgeteiltes Vierparteiensystem mit CDU/ CSU und FDP sowie SPD und Grünen ausdifferenzierte.

In dem Maße, in dem sozioökonomischer Wandel einst homogene soziale Umwelten auflöste, Bildungs- und Ausbildungsstand beeinflußte, größere vertikale wie horizontale Mobilität zuließ und es dadurch zur Angleichung der Parteiwählerschaften und der programmatisch-ideologischen Anpassung der Parteien kam, erfuhren politisch-konjunkturelle und politisch-situative Bestimmungsfaktoren des Wahlverhaltens einen Bedeutungszuwachs. Strukturell kam es zur Abnahme der Parteiidentifikation und die sich lockernden Parteiloyalitäten führen zu flexiblerem Wahlverhalten, der Bereitschaft zum Parteiwechsel. Gleichzeitig ist aber auf die Gefahr einer Überbewertung kurzfristiger Einflüsse auf das Wahlverhalten hinzuweisen. Nach wie vor bestimmen die parteigebundenen Stammwähler das Bild, ist die Zahl der tatsächlichen Wechselwähler relativ gering (Angaben schwanken zwischen 10 % und 20 %).

Aus: R.-0. Schultze/F.W. Semrau: Wählerverhalten, in: U. Andersen/W. Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1997, S. 589f.
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