M 05.12 Das neue Phänomen: Nichtwähler/innen
 


Seit Mitte der 80er Jahre kann in der Bundesrepublik Deutschland ein neues Phänomen beobachtet werden: der Nichtwähler. Die Zahl der Nichtwähler hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt und nimmt gerade in jüngster Zeit beachtlich zu. So ist bei einigen Landtagswahlen die "Partei der Nichtwähler" zur größten Partei geworden. Am nachfolgenden Schaubild wird dieser Rückgang der Wahlbeteiligung deutlich.

Sind Nichtwähler unpolitische Menschen oder drücken sie in ihrer Wahlenthaltung auch eine Form der Wahl aus? Wahlenthaltung hat nicht nur situative Gründe. Die Wahlenthaltung ist in zunehmendem Maße das Ergebnis einer bewußten Entscheidung von politisch informierten und interessierten Bürgerinnen und Bürgern (...). Der Anteil der Nichtwähler, die aus Interesselosigkeit oder Gleichgültigkeit die Wahl meiden, ist gering.

Doch ist nach den Gründen der höheren Wahlenthaltung zu fragen. Sie kann einmal zufälliger, sporadischer Natur sein, was jedoch empirisch als der geringste Grund anzusehen ist. Weitere Gründe können mangelnde überzeugende Kandidaten und Parteien sein. Es kann darüber hinaus das Partizipationsinstrument von Wahlen insgesamt in Frage gestellt werden. In den westlichen Industrieländern - und damit auch in Deutschland - ist eine Veränderung im Partizipationsverhalten der Wähler festzustellen. So wird eine wachsende Skepsis gegenüber den Leistungen von Regierung und etablierten Parteien beobachtet, die ein wesentlicher Grund für den Rückgang in der Wahlbeteiligung sein dürfte. Aber auch der in den letzten zwei Jahrzehnten sich vollziehende Wertewandel hat außerordentlich zur Veränderung des Verhaltens der Bürger beigetragen, was sich notwendigerweise auch auf die Institution der Wahl auswirkt.

Wachsende Parteienverdrossenheit beruht nicht nur auf dem Fehlverhalten einiger Politiker und auf von den Parteien verursachten Skandalen, sondern auch in der Perzeption geringerer Leistungen durch die Politik. In den letzten Jahrzehnten hat eine Bildungsrevolution stattgefunden, ist eine rasche Ausbreitung und Anwendung neuer Technologien erfolgt, die einen immer stärker individualisierten Menschen hervorbrachte. Vor diesem Hintergrund haben Großorganisationen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen es immer schwerer, Menschen an sich zu binden.

Die soziokulturelle Einbindung von Personen und Gruppen in soziale Milieus wird immer geringer, ja sogar Auflösungstendenzen sind zu beobachten. Dadurch sinkt auch im modernen Wohlfahrtsstaat die Bereitschaft, sich Autoritäten unterzuordnen. Die kognitive Kompetenz der Wähler steigt. "Ein steigendes Bildungsniveau erhöht die Fähigkeit der Wähler, komplexe soziale und politische Prozesse zu verstehen, ein erweitertes Informationsangebot reduziert die Kosten politischer Information. Beides zusammen entbindet die Wähler von der Notwendigkeit, auf Parteien und Meinungsführer als politische Orientierungshilfen zurückgreifen zu müssen. Die so gewonnene kognitive Kompetenz eröffnet neue Möglichkeiten individueller politischer Partizipation mit weitreichenden Folgen für die Bewertung von Wahlen". (...). Damit wird auch die Entscheidung, sich an der Wahl zu beteiligen, abhängiger von den Personen, Leistungen und Programmangeboten der Parteien. Die Bereitschaft zum Wechsel der Partei bzw. zur Wahlenthaltung steigt. (...)

Aus: W. Woyke: Stichwort: Wahlen, 10. überarb. Aufl., Opladen 1998, S. 241 ff.
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