M 05.13 Sinkende Wahlbeteiligung: Krise oder Normalisierung?
 



Krisensymptom der Demokratie

Warum man selbst möglicherweise nicht wählen geht, wird nach anderen Maßstäben beurteilt. Als entscheidende Kriterien für sich selbst nennen Ost- wie Westdeutsche schwerpunktmäßig drei Motive und es sind hier wie dort die gleichen, nämlich: politischer Protest, Mißtrauen in die politische Klasse sowie fehlende politische Einflußmöglichkeiten. Überdurchschnittlich häufig äußern sich in diesem Sinne die unter Fünfunddreißigjährigen, die Anhänger der Grünen sowie politisch ungebundene Wahlberechtigte. Zwischen 16 und 20 Prozent in Ost und West geben aber auch ihr persönliches Desinteresse an Politik zu verstehen. Angesichts ihrer eigenen Ohnmacht weigern sie sich, als "Stimmvieh" mitzumachen.

Dieser Befund verweist auf das Doppelgesicht der rückläufigen Wahlbeteiligung. Während die einen sich zurückziehen und nicht wählen gehen oder ihre Ohnmacht derzeit auch durch die Stimmabgabe für eine populistische Rechtspartei zu überwinden suchen - wie die Beispiele Berlin, Baden-Württemberg und Bayern bei der Europawahl 1989 zeigen oder auch jüngst in Bremen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein -, erscheint einem anderen Teil der Bevölkerung Wählen als Mittel der politischen Mitsprache und Mitwirkung als nicht hinreichend. Nach ihrer Auffassung kann die in 40 Jahren gereifte Demokratie sich nicht im bisherigen institutionellen und formalen Rahmen der politischen Teilnahme erschöpfen. Sie fordern "Mehr Demokratie" und mehr Mitbestimmung. Demokratische Selbstimmung entwickelt im Laufe der Zeit neue Aktionsformen und "erwählt" neue Akteure, ohne demokratische Innovation entfernt sich der Staat von demokratischer Normalität.

Zu diesen Aktionsformen kann eine ganze Reihe von Maßnahmen oder Formen zählen; der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt. In diesem Zusammenhang sind zwei Zahlen erwähnenswert. Im Osten treten 85 Prozent für die Möglichkeit einer Volksabstimmung ein, in der alten Bundesrepublik sind es 83 Prozent. Der Rückgang der Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik Deutschland ist somit weniger ein Indiz für unauffällige demokratische Normalisierung als vielmehr ein Signal für vielfältig motivierte politische Unzufriedenheit.

(aus: Ursula Feist: Niedrige Wahlbeteiligung - Normalisierung oder Krisensymptom der Demokratie in Deutschland? in: K. Starzacher u.a. (Hrsg.): Protestwähler und Wahlverweigerer. Krise der Demokratie. Köln 1992, S. 40-57.)


Normalisierung der Demokratie

Es gibt in der Bundesrepublik keine Krise der Demokratie. Dazu gibt es zu viele Befunde, die eher das Gegenteil beweisen. Die Zufriedenheit mit der Demokratie ist groß. Das System funktioniert. Für viele Wähler heißt das: Nicht bei jeder Wahl steht das demokratische System zur Abstimmung, ich werde nicht jedesmal gebraucht. Ich kann mich dann meinen eigenen Interessen widmen, und dieser schöne Sonntag muß nicht unbedingt dem Staat (...) gewidmet werden.

Normalisierung heißt meine Hypothese zu sinkender Wahlbeteiligung, und durch sie kann zumindest das meiste erklärt werden. Noch einmal: Bei den Landtagswahlen der letzen vier Jahre gab es überall Wahlbeteiligungsrückgang, zum Teil von "dramatischen Ausmaßen" wie das Politiker und Journalisten genannt haben. Den höchsten Rückgang der Wahlbeteiligung gab es in Hamburg mit minus 13,4 Prozent. Dort schien die Wahl überhaupt keine Überraschungen zu bieten. In dieser Zeit, in der rund ein Dutzend Wahlen stattfanden, gab es zwei Ausnahmen: Jeweils um 0,6 Prozent ist die Wahlbeteiligung in Schleswig-Holstein und in Baden-Württemberg gestiegen. Diese beiden Wahlen waren als äußerst wichtige Wahlen eingestuft worden. In Schleswig-Holstein war die Wahl am 8. Mai 1988. Es war die Wahl nach der Barschel-Affäre. Die Glaubwürdigkeit von Parteien und Politikern hatte Schaden genommen. Es mußte Fahne gezeigt werden, die Bürger zeigten, daß sie diese Art von Manipulationen nicht wollten.

Bei der Analyse des Zusammenhangs von Wahlbeteiligungsrückgang und dem Abschneiden der Parteien stellte die Forschungsgruppe im Prinzip keinen Zusammenhang fest. Dies gilt zumindest für die beiden großen Parteien. Man kann zwar für die Republikaner, die bei dieser Wahl schlecht abschnitten, ein paar kleine Effekte feststellen, aber diese stützen ja nur meine These. Wichtig, das unterstreicht meine These der Normalisierung, ist aber die Tatsache, daß Rückgang der Wahlbeteiligung im Lande sehr gleichmäßig ist.

Einen Zusammenhang zwischen der niedrigen Wahlbeteiligung und der Zufriedenheit mit der Demokratie in Hessen oder auch insgesamt in der Bundesrepublik können wir empirisch nicht feststellen. Dies gilt übrigens auch für den Osten. Im Osten gibt es den stärksten Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit mit der Demokratie und der Einschätzung der ökonomischen Situation, was ja insgesamt bei einer so jungen Demokratie und einer so deutlichen Orientierung am Westen nicht verwunderlich ist. Dieser Zusammenhang sollte ein Hinweis auf die Erklärung sein. (...) Es gibt also keinen Zusammenhang zwischen der Systemzufriedenheit und niedriger Wahlbeteiligung. Aus meiner Sicht ist deshalb eine sinkende Wahlbeteiligung eher ein Zeichen der Normalisierung in einer funktionierenden Demokratie als ein Symptom für eine Krise unseres Systems.

Aus: Dieter Roth: Sinkende Wahlbeteiligung - eher Normalisierung als Krisensymptom, in: K. Starzacher u.a. (Hrsg.): Protestwähler und Wahlverweigerer, Köln 1992, S. 58-68.
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