M 05.14 Stammwähler/innen
 


Der "ideale" Wähler, der die sachlichen und personellen Ziele der Parteien im einzelnen kritisch vergleicht und sie an der bisherigen Praxis sowie an den eigenen Zielen mißt, ist selten zu finden. Die Mehrheit der Wähler scheint nur begrenzt politisch interessiert und informiert zu sein. Auch wenn Veränderungen in der Wählergunst bei Wahlen verständlicherweise im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen, ist eigentlich viel eher die hohe Konstanz im Wählerverhalten bemerkenswert und erklärungsbedürftig. Der weitaus größte Teil der Wähler entscheidet sich nämlich regelmäßig für dieselbe Partei, insbesondere im Fall der großen Parteien CDU/CSU und SPD.

Stammwähler

Als Stammwähler werden Wähler bezeichnet, die eine stabile Bindung an "ihre Partei" aufgebaut haben, und die daher von anderen Parteien kaum zu erreichen sind.

Wie ist eine solche Bindung, die sich in der Regel nur längerfristig ändern kann, zu erklären? Der wichtigste Faktor wird in der sozialen Umwelt des Wählers gesehen. Im Rahmen der politischen Sozialisation von Heranwachsenden werden politische Werthaltungen und Orientierungen vermittelt, die sich auch auf die Parteibindung erstrecken. Dabei hat anfänglich das Milieu des Elternhauses die stärkste Prägekraft, später treten Einflüsse der engeren sozialen Umgebung - Nachbarschaft, Schule, Betrieb - hinzu. Ergibt sich dabei ein relativ einheitliches Sozialmilieu, wirkt dies auch politisch vereinheitlichend. In der Sozialstruktur der Bundesrepublik hat sich zum einen die beruflich-soziale Schichtung als prägender Faktor für Parteibindungen erwiesen. So wählt z.B. die Mehrheit der Arbeiter traditionell SPD. Die Parteibindung bestimmter sozialer Schichten kann als Reaktion auf historische Erfahrungen gedeutet werden. Z.B. entstand die SPD aus der Arbeiterbewegung. Da sie aus Sicht der meisten Arbeiter ihre Interessen über einen langen Zeitraum wirksam vertrat, entwickelte sich eine feste Parteibindung. Da Parteibindungen sozialer Schichten aber an Erfahrung rückgekoppelt sind, können sie sich aufgrund neuer Erfahrungen ändern, wenn auch in der Regel nur langsam.

Als stabilisierender Faktor für die Arbeiterbindung an die SPD hat sich eine Mitgliedschaft in den Gewerkschaften erwiesen. Gewerkschaftsmitglieder unter den Arbeitern wählen zu einem sehr viel höheren Prozentsatz SPD als Nichtgewerkschaftsmitglieder.

Eine andere grundlegende Konfliktlinie, die milieustiftend gewirkt und die stabile Parteibindungen geschaffen hat, ist die Religion. Die traditionelle Bindung katholischer Wähler an das Zentrum ist in der Bundesrepublik auf die CDU/CSU übertragen worden. Bei enger kirchlicher Bindung steigt nicht nur der Anteil der CDU/CSU-Wähler unter den Katholiken noch einmal stark an, sondern in diesem Fall ist die Union auch unter den evangelischen Wählern klar Mehrheitspartei. Die beiden genannten Konfliktdimensionen Schichtzugehörigkeit, verstärkt durch Gewerkschaftsbindung, und Religionszugehörigkeit, verstärkt durch Kirchenbindung (gemessen als Häufigkeit des Kirchganges) haben in der Bundesrepublik das Wählerverhalten stark beeinflußt und zur Bildung von Stammwählerschaften beigetragen.

Spätestens in den 80er Jahren ist aber noch eine dritte, neue Konfliktdimension erkennbar geworden: die ökologische Dimension. Hierbei geht es um die Einstellung des Wählers zum ökonomisch-technischen Wachstum und der damit verbundenen Problematik. Ohne Zweifel ist deutlich geworden, daß immer mehr Bürger diese Problematik in ihre Wahlentscheidung einbeziehen. Ob allerdings die ökologische Konfliktdimension zum Aufbau stabiler Parteibeziehungen führen wird, ist eine heute noch nicht definitiv zu beantwortende offene Frage. Grundsätzlich gilt, daß die Prägekraft von sozialstrukturellen Faktoren auf das Wählerverhalten abgenommen hat, auch wenn diese nach wie vor wirksam sind. Zu der abnehmenden Wirkung tragen Faktoren wie rückläufige Kirchenbindung und der abnehmende Anteil der besonders parteigebundenen Schichten (Arbeiter, Selbständige) bei. Wenn der Anteil der Stammwähler tendenziell abnimmt, richtet sich der Blick verstärkt auf den Gegenpol, den Wechselwähler.

Aus: W. Woyke: Stichwort: Wahlen, 10. überarb. Aufl., Opladen 1998, S. 237 ff.
-> drucken