Demokratie braucht Partei
Einmal mehr steht die Bedeutung von Parteien für unsere Demokratie im Brennpunkt des öffentlichen Interesses. Welche Rolle spielen die Parteien und welche Rolle sollten sie spielen? Wie leistungsfähig sind die Parteien für unsere Demokratie? Wer schon etwas länger „im Geschäft" ist, weiß, dass alle diese Fragen nicht neu sind. Aber das ist kein Nachteil. Denn die Parteien müssen sich - wie alle anderen Institutionen auch - immer wieder ihrer Grundlagen und ihrer Aufgaben vergewissern. Ich finde es deshalb richtig, dass die Funktion der Parteien einmal mehr kritisch diskutiert wird. Es hilft uns, auf der Höhe der Zeit zu bleiben.
Mir ist aber wichtig, dass nicht in einen Topf geworfen wird, was nicht zusammengehört. Es macht keinen Sinn, den CDU-Spendenskandal, die Politik- und Parteienverdrossenheit, den Filz und den Modernisierungsbedarf von Parteien in einem Atemzug zu nennen und zu diskutieren. Der CDU-Spendenskandal beruht auf einem gefährlichen Staatsverständnis, das im Gesetzes- und Verfassungsbruch gipfelt. Ein kleiner Führungskreis der CDU handelte nach der Maxime: „Wir sind der Staat." Parteien sind aber immer nur ein Teil des Ganzen - wie schon der Name sagt. Wer das vergißt, verstößt gegen das Bauprinzip der Demokratie. Der demokratische Wechsel ist für unsere Demokratie lebensnotwendig.
Daneben gibt es eine latente Politik- und Parteienverdrossenheit, die durch den CDU-Skandal noch angeheizt wird, aber nicht durch diesen ausgelöst wurde. Und schließlich sind die Parteien einem ständigen Veränderungs- und Modernisierungsdruck ausgesetzt, der sich aus dem gesellschaftlichen Wandel ergibt. Nur wenn man diese Dinge sorgfältig auseinanderhält, entgeht man der falschen Annahme, wir hätten es mit einer grundsätzlichen institutionellen Krise unseres Demokratiemodells zu tun. Richtig ist, dass die CDU von einer schweren, selbstverschuldeten Krise betroffen ist.
Meine Kernaussage lautet: Parteien müssen sich regelmäßig erneuern und reformieren, sie sind aber für unsere Demokratie unverzichtbar. Wir leben in einer hoch komplexen Welt. Zielführende Entscheidungen vorzubereiten und zu verwirklichen, wird damit schwieriger. Parteien sind notwendig, weil sie Positionen vorklären und Interessen bündeln. Ohne diesen Vorlauf ist eine sinnvolle Entscheidungsfindung nicht vorstellbar. Zwar klären auch andere Gruppen oder Initiativen Positionen vor und bündeln Interessen. Sobald sie sich aber auf den parlamentarischen Weg begeben, werden sie den Parteien sehr schnell ähnlich. Wir haben das bei den Grünen erlebt.
Ohne Volksparteien würden die Chancen der Bürgerbeteiligung an Entscheidungen eingeschränkt. Das Beispiel des diffusen Parteiensystems in den USA zeigt: Wo Parteien quasi nur Wahlbündnisse sind, wächst in der Realität der Einfluß wirtschaftlich organisierter Interessen. Linke Politik heißt, die Partizipation von Menschen voranbringen, die Verwirklichung von Volkssouveränität. Konservative Parteien haben demgegenüber erheblich Vorbehalte gegenüber der umfassenden Beteiligung von Menschen. Weltanschaulich begründete Parteien sind Garantinnen dafür, dass dem unverzichtbaren Grundprinzip unserer Demokratie zur Durchsetzung verholfen wird: Die Wahl zwischen politischen Alternativen und der Wechsel von Regierungsmehrheiten.
Gelegentlich ist zu hören, dass sich die Volksparteien in ihren Positionen immer ähnlicher würden. Ich halte das für falsch. Wer in die Programme schaut und sich vor allem das konkrete Regierungshandeln ansieht, wird feststellen, dass die Unterschiede erheblich sind. Es gibt eine weltanschauliche Bindung an Grundwerte und Überzeugungen, die der Mediendemokratie nicht zum Opfer gefallen ist. Für die meisten Menschen ist das, vielleicht ohne dass es uns immer so klar wäre, übrigens sehr deutlich.
Allerdings ist auch für meine Partei wichtig, dass die Fortschreibung der Programmatik immer im Einklang mit der ganzen Partei geschieht. Deshalb ist es mir wichtig, dass die jetzt beginnende Debatte um ein neues Grundsatzprogramm mit der ganzen Partei geführt wird und möglichst darüber hinaus ausstrahlt.
Wir werden von den Referenten gleich interessante Anregungen erhalten. Dem will ich nicht vorgreifen. Aber ich möchte in der gebotenen Kürze skizzieren, in welchen zwei Bereichen mir Reformen besonders am Herzen liegen:
1. Mehr direkte Demokratie
Ich habe begründet, weshalb die Parteien für die Demokratie unentbehrlich sind. Sie dürfen aber nicht so viel Raum einnehmen, dass anderen Formen der Mitbestimmung die Luft ausgeht.
Wir verfügen über ein parlamentarisch-repräsentatives System, das sich insgesamt bewährt hat. Dieses sollte aber durch mehr direkte Bürgerbeteiligung ergänzt werden. Immer mehr Menschen möchten direkter auf zentrale Grundentscheidungen Einfluß nehmen können - und dies jenseits der offiziellen Wahltermine. Ich hoffe sehr, dass wir eine Änderung des Grundgesetzes hinbekommen, die auf Bundesebene Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheideermöglicht, wie wir das bei der Beratung der deutschen Verfassung nach der Vereinigung vorgeschlagen hatten. Genau dieses ist auch in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung verabredet worden. („Wir wollen die demokratischen Beteiligungsrechte der Bürgerinnen und Bürger stärken. Dazu wollen wir auch auf Bundesebene Volksinitiative, Volksbegehren und Volksentscheid durch Änderung des Grundgesetzes einführen.")
Allerdings benötigen wir für eine Änderung des Grundgesetzes eineZweidrittelmehrheit und bis jetzt haben sich CDU/CSU und FDP im Bundestag immer energisch gegen mehr Bürgerbeteiligung gewandt. Vielleicht überdenkt aber gerade die CDU ihre Haltung noch einmal, wenn sie jetzt ihr Verhältnis zur Demokratie und zu den Bürgerinnen und Bürgern aufarbeitet.
2. Internationalisierung der Parteien
Viele politische Probleme haben heute einen europäischen oder internationalen Zuschnitt. Daraus folgt zwingend, dass ihre Lösung nur auf europäischer oder internationaler Ebene gefunden werden kann. Das gilt z.B. für so unterschiedliche Aufgaben wie die Bewahrung des Friedens, für den Umweltschutz (man denke nur an die CO2-Emissionen und die globalen Klimaveränderungen) oder aber auch für eine abgestimmte Politik in den internationalen Finanzinstitutionen. Für alle diese Fragen kann die nationale Politik allein keine befriedigenden Antworten finden. Für die Regierungen besteht die Aufgabe in einer intensiven internationalen Politikkoordinierung. Aber auch die Parteien müssen sich den neuen Anforderungen sowohl organisatorisch wie auch programmatisch stellen.
Auf mittlere Sicht ist der wirkliche europäische Zusammenschluß der Parteien eine zwingende Notwendigkeit. Die SPE-Fraktion im Europäischen Parlament bietet hier ein gutes Beispiel. Von vielen unbemerkt, ist sie längst zu einer richtigen europäischen Fraktion geworden, die nicht nach nationalen Mustern funktioniert. Und dennoch: Die Rolle der politischen Parteien auf europäischer Ebene hinkt der institutionellen Ausgestaltung der EU hinterher und ist ein wichtiger Grund für Partizipationsdefizite. Das Fehlen einer ausreichenden gemeinsamen europäischen Öffentlichkeit und das Fehlen einer gemeinsamen Sprache haben sich bisher als praktische Hindernisse erwiesen.
Die Arbeit der SPE, dem Zusammenschluß der sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas, und der Sozialistischen Internationale bieten viele gute Anknüpfungspunkte. Schon heutebesteht ein enger Dialog zwischen den Parteien. Die Kooperation - insbesondere auf europäischer Ebene - muß aber noch enger werden. Wir benötigen auch jenseits der Europawahlen eine gemeinsame Programmatik und eine engere organisatorische Verzahnung.
Im Kern geht es mir darum, wie Volkssouveränität unter den Bedingungen der Globalisierung verwirklicht werden kann. Gerade zu dieser Frage erwarte ich mir auch von unserer Programmdiskussion wichtige Antworten.
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Stellvertretende Vorsitzende der SPD
Aus: Demokratie braucht Partei, Berlin, 2. April 2000, Willy-Brandt-Haus;
http://www.spd.de/events/demokratie/wieczorek-zeul.html