Um die Funktion und Bedeutung von Wahlkämpfen in westlichen Demokratien zu verstehen, sollte man sich die Besonderheiten dieser Art von politischer Beteiligung vor Augen führen: Alle wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürger eines Staates (in Deutschland 60 Millionen Menschen) sind aufgefordert, gleichzeitig ihr Votum über die konkurrierenden Parteien und Kandidaten zu einem bestimmten Datum abzugeben. Bei diesem Vorgang, der vom Umfang her schon beachtliche Ausmaße hat, muß sichergestellt sein, daß die Wahlgrundsätze (frei, gleich, geheim) eingehalten werden. Ohne eine gut funktionierende Verwaltung ist eine solche Massenveranstaltung kaum erfolgreich durchzuführen. Diese formalen Bedingungen sind einzuhalten, damit das Volk an der Auswahl und Bestellung der Regierenden mitwirken und Herrschaft zeitlich begründet und legitimiert werden kann. Die Qualität der Entscheidung, welche Parteien die bessere Politik machen, hängt zum einen vom Angebot an Parteien bzw. Kandidaten, zum anderen von der Mündigkeit und politischen Kompetenz der Bürgerinnen und Bürger ab. Daher heißt es für demokratische Regierungssysteme auch nicht ganz zu Unrecht: Ein Volk hat die Politiker, die es verdient.
Diejenigen Parteien und Kandidaten, die sich zur Wahl stellen, wollen die Entscheidung der Wähler nicht dem Zufall überlassen, sondern sie setzen einiges daran, diese in ihrem Sinne zu beeinflussen. Aus dieser Situation heraus, daß sich die Regierenden in regelmäßigen Abständen zur Wahl stellen müssen, daß Konkurrenten ihnen auf diese Weise die Macht streitig machen wollen (können), daß die Mehrheit der Stimmen (bzw. Mandate - je nach Wahlsystem) gewonnen bzw. die Mehrheit der bisher herrschenden Partei oder Gruppierung eingeschränkt werden muß und daß das Volk hier nun besonderen Einfluß auf die Politik nehmen möchte, ergibt sich der widersprüchliche und zugleich auch "dramatische" Stellenwert des Wahlkampfes in der Demokratie. Wahlkampf ist einerseits intensives Werben der politisch Mächtigen um die Gunst der Wähler/innen. Andererseits übt die Bevölkerung besonders in Wahlkampfzeiten über den Weg der öffentlichen Meinung (und Meinungsumfrage) großen Einfluß auf die Meinungsbildung der Politiker aus. Die besonders enge Verknüpfung von Wählern und Gewählten trägt dazu bei, daß es eine Konjunktur von Wahlkampfthemen gibt und daß die Äußerungen von Politikern vor und nach den Wahlen oft unterschiedlich ausfallen. Die Intensität des Wahlkampfes wird dadurch gesteigert, daß einerseits die Möglichkeiten der Einflußnahme durch die Massenmedien (vor allem TV) steigen und andererseits die Wähler sich immer weniger an die Parteien gebunden fühlen.
"Wer die westliche Demokratie aus kommunistischer oder faschistischer Sicht ablehnt, bezeichnet seinerseits die Wahl als bloßen Schein und die sich zur Wahl stellenden Parteien als Schein-Alternativen, da alle die gleichen Interessen der kapitalistischen, durch Wahlen nicht ablösbaren Führungsschicht und keinesfalls die der Masse des Volkes verträten. Aus dieser Sicht ist auch der Wahlkampf lediglich Farce und Spektakel ohne legitimierende Wirkung. Radikale Parteien in der Bundesrepublik, die diese Auffassung vertreten, beteiligen sich trotzdem an WahIkämpfen und Wahlen. Sie erkennen damit bei aller theoretischen Ablehnung doch die Möglichkeit der Machtveränderung in der Praxis an." (W. Wolf: Wahlkampf in der Demokratie, Köln 1985, S. 10.)
Wer aktuelle Wahlkämpfe analysieren und bewerten will, kann sich an diesem Spannungsverhältnis von Anspruch und Wirklichkeit gut orientieren.
Was sollten Wahlkämpfe sein?
"Eigentlich müßte die Zeit der Wahlkampagne für einen Demokraten eine stimulierende Zeit sein, denn sie gibt dem handelnden Politiker wie dem behandelten Publikum Gelegenheit, über Argumente nachzudenken, Anregungen aufzunehmen, Kritik zu vertiefen." (M. Dönhoff, Jenseits von Wahl und Wahlkampf, in: DIE ZEIT, 26.9.1980). Wahlkämpfe sollten mit klaren Argumenten geführt werden, als Sachdebatten über für die Gesellschaft wichtige Themen. Aus dem Wahlkampf sollte eine Erneuerung der Politik resultieren. Er sollte Antworten auf Zukunftsprobleme geben. Die Kämpfer sollten ihre Aktivitäten daran messen, daß die erbitterten Gegner von heute nach dem Wahltag wieder wie ganz normale Menschen miteinander umgehen müssen. "Ein Wahlkampf sollte (...) eine Anschauung von dem geben, was seelisch in einer Nation steckt, wo ihre Neigung und Abneigung steckt, was sie liebt und was sie verachtet." (W. Hennis: Frage nach der politischen Kultur. Der Wahlkampf in der Bundesrepublik ist ohne Substanz, in: Rheinischer Merkur, 29.08.1980.)
Was wird an Wahlkämpfen kritisiert?
1. Problemblindheit und -verdrängung gegenüber den Zukunftsaufgaben der Politik
2. Monotonie und Holzhammermethode der Argumentation
3. Sensibilitätsmangel gegenüber den wirklichen Sorgen und Ängsten der Bürger
4. Entpolitisierung durch Verkürzung der politischen Argumentation auf wenige Schlagworte, auf Leerformeln
5. Schädliche Wirkungen für die politische Kultur (Staatsverdrossenheit)
6. Unglaubliche Zumutungen an die Intelligenz und das Stilgefühl der "deutschen Wähler".