M 07.08 Analyse des Bundestagswahlkampfs 1998
 


Bundestagswahl 1998, ein Befreiungsschlag?

Die Wähler haben am Sonntag bei der Bundestagswahl mit ihrem Abstimmungsverhalten den Blick auf eine neue soziale Frontstellung freigelegt und vollziehen damit den Brückenschlag zu anderen europäischen Ländern. Diesen "Befreiungsschlag vom Sonntag" untersuchten Dieter Oberndörfer, Gerd Mielke und Ulrich Eith von der "Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg" am Seminar für Wissenschaftliche Politik der Universität Freiburg. Neben den Autoren gehören der Gruppe noch Axel Glemser und Stefan Merz an. Wir dokumentieren die Analyse der Arbeitsgruppe, die regelmäßig nach wichtigen Wahlen derartige Untersuchungen für die FR vornimmt, in Wortlaut.

I.
Erstmals in der Geschichte der Bundestagswahlen haben die Wähler mit ihren Stimmzetteln einen Regierungswechsel in Bonn herbeigeführt. Er wurde durch erdrutschartige Verschiebungen in den Wählerschaften in Ost und West begleitet. Der SPD gelang es mit einem Stimmenanteil von 40,9 % zum zweiten Mal nach 1972, bei einer Bundestagswahl als stärkste Partei abzuschneiden. Die Christdemokraten hingegen mussten mit 35,2 % ihr schlechtestes Ergebnis seit 1949 hinnehmen.

In den ersten Analysen nach der Wahl, aber auch bereits im Vorfeld ist die Wahl vom 27. September 1998 als das Paradebeispiel einer Persönlichkeitswahl und einer erfolgreichen Wahlkampagne der SPD nach amerikanischem Vorbild interpretiert worden. Der Vorsprung des sozialdemokratischen Herausforderers und triumphalen Wahlsiegers Gerhard Schröder in den Popularitätsskalen gegenüber dem Bundeskanzler gehörte zu den demoskopischen Konstanten des gesamten Wahljahres.

Ebenso beeindruckend war die professionelle Zielstrebigkeit, mit der die Sozialdemokraten in der Öffentlichkeit die Lufthoheit gegenüber den Parteien der Regierungskoalition erkämpften und gegen alle Versuche der Union un der Liberalen verteidigten, das Blatt noch einmal zu wenden. Als wahlsoziologische Erklärung und politische Bewertung des Wahlergebnisses greift jedoch die These vom professionell inszenierten Persönlichkeitswahlkampf zu kurz. In ihrer Ausrichtung auf Wahlkampfstimmungen und Kandidatenimages läuft sie Gefahr, langfristige Grundströmungen und strukturelle Konfliktlagen in der deutschen Wählerschaft auszublenden und damit eine Heldentheorie des Wahlkämpfertums zu beschwören, die den Blick auf zentrale Botschaften der Wahlergebnisse verstellt und zu politischen Fehlschlüssen führen kann. (...)

II.
Die erfolgreiche Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft und deutliche Einbrüche in die Unionswählerschaft waren die Basis eines furiosen sozialdemokratischen Wahlsieges, wie er in dieser Größenordnung nur von wenigen Beobachtern erwartet worden war. Mit bundesweiten Zuwächsen von 4,5 Prozentpunkten und einem Stimmenanteil von 40,9 % überrundete die SPD die Union klar und knüpfte erstmals wieder an die Erfolge vergangener Jahrzehnte an. Vor allem in den nördlichen Bundesländern haben die Sozialdemokraten stabile Mehrheitspositionen auf- und ausbauen können. Die höchsten Gewinne gelangen diesmal in Niedersachsen (+ 8,8), Mecklenburg-Vorpommern (+ 6,6) und Hamburg (+ 6,1). Lediglich in Brandenburg war ein Stimmenverlust von 1,6 Prozentpunkten zu verzeichnen.

In den östlichen Bundesländern konnte die SPD 1998 3,7 Prozentpunkte zulegen und behauptet sich inzwischen auch dort mit 35,1 % als stärkste Partei. Zuwächse erfolgten besonders in den bisherigen CDU-Hochburgen und in Gebieten mit einer hohen Arbeitslosigkeit. Unter der ostdeutschen Arbeiterschaft errangen die Sozialdemokraten nach Umfragen diesmal einen deutlichen Vorsprung vor der Union. In ihren eigenen sozialdemokratischen Hochburgen konnten hingegen kaum zusätzliche Gewinne realisiert werden. Eine sozialdemokratische Kernwählerschaft ist aber auch nach dieser Wahl lediglich in Ansätzen auszumachen. In den westlichen Bundesländern kam die SPD sogar auf einen seit den 70er Jahre nicht mehr erreichten Stimmenanteil von 42,4 % (+ 4,9). Hier erfolgten die Zuwächse nahezu überall in vergleichbarer Größenordnung. Die höchsten Gewinne gelangen den Sozialdemokraten in protestantischen und ländlichen Gebieten.

Die Union verlor nun schon zum vieren Mal in Folge seit 1983 und fiel bei dieser Wahl mit einem Stimmenanteil von 35,2 % wieder auf den Stand der frühen 50er Jahre zurück. Im Westen rutschte sie um insgesamt 5 Prozentpunkte ab, am stärksten in Niedersachsen (- 7,2) und Hessen (- 6,0). Im Osten schlägt ein Minus von 11,4 Prozentpunkten zu Buche. In Sachsen addierten sich die Verluste sogar auf - 15,3 Prozentpunkte. Nur in Bayern erzielte die Union noch einen Stimmenanteil von über 40 %. Der dramatische Absturz erfolgte vor allem in Gebieten mit hohen sozialdemokratischen Gewinnen.

In den östlichen Bundesländern wirkte sich zudem eine deutliche Zunahme der Wahlbeteiligung negativ auf den Stimmenanteil der CDU aus. Besonders in den christdemokratischen Hochburgen, den mittleren und kleineren Städten, misslang die Mobilisierung. Viele bisherige Unionswähler entschieden sich dort diesmal für die Stimmenthaltung oder den Parteiwechsel. Im Westen verlor die Union flächendeckend. Im direkten Gegensatz zur SPD erfolgten die höchsten Verluste in den protestantischen Wahlkreisen des Nordens, die geringsten Verluste in den katholischen Gebieten im Süden. Den Umfragen zufolge hat die Union sogar ihre einst überragende Vormachtstellung in den älteren Generationen der bürgerlichen Mittelschichten, insbesondere bei Frauen über 60 Jahre, zu einem großen Teil eingebüßt. Die Christdemokraten hatten den verbreiteten Wunsch nach einem Wechsel unterschätzt und wurden bei dieser Wahl auf die Grenzen ihrer Traditionswählerschaft zurückgestutzt.

Auch die beiden kleinen Parteien Bündnis 90/Die Grünen und FDP mussten im Vergleich zu 1994 Verluste hinnehmen. Mit 6,7 % konnten sich die Grünen bundesweit jedoch als drittstärkste Partei behaupten. Weiterhin schwach bleibt ihre Stellung im Osten. Nur in wenigen Wahlkreisen gelang ihnen dort der Sprung über die 5-%-Hürde. Im Westen Deutschlands liegen die grünen Hochburgen auch nach dieser Wahl in den Dienstleistungszentren mit einem hohen Anteil von Angestellten, Beamten und Wählern mit höherer Bildung.

Die FDP erzielte bundesweit noch 6,2 % und halbierte somit seit 1990 nahezu ihren Stimmenanteil. Gesicherten Stimmenanteilen über 5 % im Westen stehen in Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg Ergebnisse unter 3 % gegenüber. Stärker noch als die Grünen profilierten sich die Liberalen 1998 erneut als westdeutsche Partei.

Die PDS kann nach dieser Bundestagswahl erstmals in Fraktionsstärke in den Deutschen Bundestag einziehen. 21,6 % in den östlichen und 1,1 % in den westlichen Bundesländern reichten der Ostpartei zum Sprung über die 5-%-Hürde. Zuwächse gelangen der PDS vor allem in den ostdeutschen Hochburgen der CDU. Darüber hinaus profitierte sie von einer hohen Wahlbeteiligung. Dem stehen allerdings Verluste in den eigenen Hochburgen, den Verwaltungs- und Dienstleistungsstädten, gegenüber. So verlor die PDS etwa in den Ostberliner Wahlkreisen trotz gewonnener Direktmandate bis zu 5 Prozentpunkte der Zweitstimmen. In wirtschaftlich aufstrebenden Regionen hat die Partei ihr Potential inzwischen weitgehend ausgeschöpft.

Entgegen manchen Befürchtungen gelangen den rechtsextremen Parteien bei dieser Wahl keine überraschenden Erfolge. Selbst in der Summe konnten die verschiedenen rechten Splitterparteien nur in Sachsen und Brandenburg knapp über 5 % der Stimmen auf sich vereinen. Ein zunehmend sich verfestigendes rechtes Milieu findet sich derzeit lediglich in den schwäbischen Wahlkreisen Baden-Württembergs. Insbesondere in Biberach, Sigmaringen und den Randgebieten des Raumes Mittlerer Neckar erzielten die Republikaner zum wiederholten Mal Stimmenanteile von über 5 %.

Aus: Eine Analyse der Bundestagswahl vom 27. September 1998, vorgelegt von Dieter Oberndörfer, Gerd Mielke und Ulrich Eith von der "Arbeitsgruppe Wahlen Freiburg", in: FR vom 2./3.10.1998, in Auszügen.

Arbeitshinweise:

1. Vergleichen Sie Analyse der Autoren mit der Analyse der Bundestagswahl 1998. Nennen Sie die im Text aufgeführten Gründe für den überraschend hohen Wahlsieg der SPD. Wo erzielte die SPD die höchsten Gewinne?
2. Wo liegen die Stärken und Schwächen der kleinen Parteien?
3. Welche Gründe führen die Autoren für die Niederlage der CDU/ CSU an?
4. Welche Aspekte bleiben aus Ihrer Sicht bei dieser Analyse unberücksichtigt?
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