M 07.10a Privates in der Politik: ein neuer Medientrend?
 


Der Einsatz des Privaten als Strategie der Selbstdarstellung

Nicht erst mit Gerhard Schröder ist der Einsatz des Privaten für die Politik zur Strategie geworden. So wurde etwa schon Franz Josef Strauß im Bundestagswahlkampf 1969 in einem CSU-Wahlspot beim Mensch-ärgere-dich-nicht im Kreis der Familie gezeigt. Im Wahlkampf 1980, in dem Strauß als Kanzlerkandidat der Union antrat, zeigte ihn ein Plakat zusammen mit seiner Tochter, die ihn auf dem Bild von hinten umarmt. Auch Edmund Stoiber lässt sich auf Wahlplakaten mit seiner Frau abbilden, so zum Beispiel im bayerischen Landtagswahlkampf 1994 als sich gegenseitig umfassendes Paar unter der Überschrift "Die Stoibers". Im Wahljahr 1998 plauderte Joschka Fischer in Boulevard Bio über sein emotionales Tief nach der Trennung von seiner Frau und in der Harald-Schmidt-Show über seine Erfahrungen als jugendlicher Ministrant. Im SPD-Fernsehspot für Spitzenkandidat Rudolf Scharping im Bundestagswahlkampf 1994 traten seine Frau und seine Mutter auf, außerdem wurde ein altes Familienvideo eingeblendet, das Scharping mit seinen kleinen Kindern zeigte. Auch Hans-Jochen Vogel und Hans-Dietrich Genscher haben in früheren Wahlkämpfen mit ihren Biographien im Fernsehen geworben.

Mittlerweile ist das Private der Politikerinnen und Politiker noch sehr viel deutlicher präsent in den Medien. So wurde etwa die neue Liebe des heutigen Verteidigungsministers frühzeitig öffentlich gemacht, nicht zuletzt durch ein längeres Interview des Paares in der Bunten schon im November 2000 oder einen Auftritt in Boulevard Bio im Januar dieses Jahres zum Thema "Nur die Liebe zählt". Diese öffentliche Inszenierung seines Privatlebens wurde dann im Sommer selbst Medien-Thema und hätte fast zum Verlust seines Amtes geführt. Der Bundeskanzler wiederum inszeniert die Entdeckung seiner ihm bislang unbekannten Cousinen zum Medienereignis. Die Suche nach dem Grab seines im Krieg gefallenen Vaters findet unter reger Beteiligung der Medien statt.

Die allseitige Beliebtheit der Talkshows - bei den Sendern, dem Publikum und den Politikern - hat ihren Teil dazu beigetragen, dass Privates öffentlich gemacht wird. Politiker nutzen mittlerweile auch die eher unpolitischen Talkshows für ihre Selbstdarstellung. Eine Analyse von Beckmann, Johannes B. Kerner-Show und Boulevard Bio über den Zeitraum von einem Jahr hat gezeigt, dass rund die Hälfte aller Themen, die von Politikern dort angesprochen werden, privater Natur sind. Bei ihren Talkshow-Auftritten nähern sich Politiker mit der Bezugnahme auf Persönliches und Privates den Stars aus dem Showbusiness an und heben sich damit gegenüber anderen Experten, die stärker auf Fakten und Analysen Bezug nehmen, ab.

Dass Politiker Privates in die Öffentlichkeit tragen und den Medien damit willkommenen Stoff liefern und umgekehrt die Medien die imaginäre Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem heute bereitwillig überschreiten, hat verschiedene Gründe. Aus der Perspektive der Politiker erfüllt die Privatisierung der Politikdarstellung vier Funktionen: Vermenschlichung, Vereinfachung und Ablenkung, Emotionalisierung und Prominenzgewinn.

1. Strategie der Vermenschlichung

Die Strategie der Vermenschlichung ist eine klassische Imagestrategie der Politik. Sie lässt den Politiker als "Mensch wie du und ich" erscheinen, macht ihn der Wählerschaft vertraut. Sie wird bevorzugt eingesetzt für die Arbeit am Image hölzern, arrogant oder kalt wirkender Politikertypen. Die zuvor beschriebenen Plakatmotive für Franz Josef Strauß und Edmund Stoiber sind Beispiele dafür. In die gleiche Richtung zielte die Kampagne "Mensch Scharping" im Bundestagswahlkampf 1994, in die sich auch der erwähnte SPD-Werbespot fügte, mit dem der Spitzenkandidat aus der "familiären Erfahrung" heraus charakterisiert wurde. Diese Strategie dient der Politik auch ganz allgemein zur Demonstration von Nähe zur Bevölkerung, um der Politikverdrossenheit in der Wählerschaft zu begegnen, die die Politiker als abgehoben und nur an der eigenen Machtsicherung interessiert empfindet. Ein Beispiel dafür, wie die Wahlwerbung versucht, einen Kanzlerkandidaten auf eine Ebene mit der Wählerschaft zu stellen, ist ein Fernsehspot aus dem Bundestagswahlkampf 1961 für Willy Brandt. Der Film zeigte Brandt bei der Fahrt mit dem Auto zu seinem Büro in Berlin. Der Text hebt hervor, dass sich natürlich auch der Regierende Bürgermeister an die Verkehrsregeln hält. Auf der Straße erkennen ihn die Bürger und grüßen ihn. Unterschwellig lautet die Botschaft: Der Kanzlerkandidat ist einer von euch, er nimmt keine Privilegien für sich in Anspruch. Zugleich sollte damit im Wahlkampf gegen "den Alten", Amtsinhaber Konrad Adenauer, auch ein anderer Politikstil in Aussicht gestellt werden.

2. Strategie der Vereinfachung und der Ablenkung

Die Strategie der Vereinfachung und der Ablenkung durch Privatisierung ist die Antwort auf die Komplexität der Politik, die sich nur schwer vermitteln lässt. Politische Programme, Lösungen für politische Probleme werden daher bevorzugt an Personen geknüpft, durch Personen symbolisiert: Der Politiker steht für die Sache. Mit Personalisierung vereinfacht das politische System die Politikdarstellung für sich, antwortet damit aber zugleich auch auf die Bedürfnisse der Medien, zumal des Fernsehens, das auch abstrakte Politik konkret - mit Bildern - präsentieren muss, und auf die Bedürfnisse des Publikums, dem die Orientierung an Personen allemal leichter fällt als die Auseinandersetzung mit Sachfragen. Personalisierung eignet sich außerdem zur Ablenkung dort, wo die Diskussion von Themen besser vermieden wird, weil der Spielraum für Entscheidungen eng ist, diese schwierig oder unpopulär sind. Personalisierung indessen wird schnell persönlich, privat: Der Kanzler macht Modenschau, die Bildzeitung gibt Empfehlungen für die Frisur der CDU-Parteivorsitzenden; der Beauftragte der Bundesregierung für Angelegenheiten der Kultur und der Medien macht mit der "attraktiven Autorin" an seiner Seite von sich reden, der Bundespräsident findet seine Krankengeschichte mit der Grafik seines Bauches in der Presse ausgebreitet; der ehemalige Bundespräsident präsentiert der Presse die neue Frau an seiner Seite, die Bildzeitung wittert eine Ehekrise des Außenministers.

3. Strategie der Emotionalisierung

Als Strategie der Emotionalisierung dient die Privatisierung der Sympathiewerbung sowie der Schaffung emotionaler Bindungen. Diese ist eine Konsequenz aus der Schwächung klassischer Wählerbindungen an die Parteien. Da soziodemographische Variablen an Erklärungskraft für Parteineigung und Wahlentscheidung eingebüßt, stattdessen aber kurzfristige und situative Faktoren Bedeutung gewonnen haben, versucht die Politik emotionale Bindungen herzustellen, die über Sympathie (Antipathie gegenüber den Kontrahenten) und Wohlgefühl ("feel good") vermittelt werden. Die neue Politik bietet Lebensstil und Lebensgefühl; die Rede von "Toskana-Fraktion" und "Generation Guido" verdeutlicht, wie Lebensstil und Politikerpersönlichkeit verschmelzen und zum politischen Angebot werden, das zur Identifikation einlädt.

4. Prominenzgewinn

Schließlich setzen Politiker das Private ein als Strategie zum Aufbau, zum Erhalt und zur Mehrung ihrer Prominenz. Für Politiker ist Prominenz notwendiges Kapital. Prominenz bedeutet massenhafte Bekanntheit, wiewohl nicht unbedingt aufgrund positiver Eigenschaften oder Leistungen. Prominenz schafft die Aufmerksamkeit der Medien, ihnen dient Prominenz als Selektionskriterium. Es sind aber auch die Medien, die Prominenz schaffen. Wer in den Medien - vor allem im Fernsehen, weil es ein Gesicht mitliefert - auftritt oder Gegenstand der Berichterstattung ist, hat eine gute Chance, prominent zu werden. Die dauerhafte Beachtung durch die Medien ist notwendig, um die Prominenz zu erhalten. Um sich also die Aufmerksamkeit der Medien und besonders des Fernsehens zu sichern, orientieren sich Politikerinnen und Politiker mit ihrer Selbstdarstellung an deren Aufmerksamkeitskriterien. Da im kommerzialisierten Rundfunksystem auch für politische Angebote das Ziel größtmöglicher Publikumsattraktivität gilt, müssen sich Politik und Politiker diesem Ziel unterordnen, und das bedeutet, sich an ihrem Unterhaltungswert messen lassen. Das betrifft die Themen der Politik, erst recht aber ihre Verpackung, und es betrifft auch die Kandidaten.

Hier treffen sich nun unmittelbar die Interessen von Politikern und Medien - und es wird klar, warum die Medien auch in der Politik immer mehr aufs Private setzen und die Politik damit in Zugzwang bringen, diese aber ihrerseits den Trend fördert.

Klatsch und das Alltäglich-Menschliche sind längst nicht mehr die Domänen der Boulevard- und Regenbogenpresse. Der wegen seiner Werbefinanzierung an Reichweiten orientierte Privatfunk - und in der Folge auch der unter Konkurrenzdruck geratene öffentlich-rechtliche Rundfunk - bevorzugt das Human-Interest-Format, das Themen, zumal durch Personalisierung und Darstellung des Einzelfalls, verständlich und spannend aufbereitet, Bezüge zum Alltag herstellt und dabei ganz auf Gefühle setzt. Boulevardisierung ist ein Trend, der im Zuge einer allgemeinen Kommerzialisierung des Medienmarktes auch die seriöseren Medien erreicht hat. Das spiegelt sich im Selbstverständnis der deutschen Journalistinnen und Journalisten, die sich mittlerweile auch zu einer unterhaltenden Funktion bekennen. Dazu kommt ferner, dass Politikvermittlung im Fernsehen längst nicht mehr nur von (politischen) Journalisten betrieben wird, sondern zunehmend auch von Talkshow-Hosts oder Entertainern. Die Medien, allen voran das kommerzielle Fernsehen und die Klatschpresse, machen sich mit ihrem Interesse an der Privatsphäre der politischen Prominenz die gesamtgesellschaftlich zu beobachtende Verschiebung der Grenze zwischen Öffentlichem und Privatem zunutze, arbeiten aber selbst daran mit. Das wirkt sich für die Politik insofern aus, als das, was als im öffentlichen Interesse liegend verstanden wird, mittlerweile weit in die ehemals als privat definierte Sphäre hineinreicht. [...]

Konsequenzen

Vor dem Hintergrund der skizzierten Wechselwirkung zwischen dem strategischen Einsatz des Privaten durch Politiker und dem kommerziellen Interesse der Medien am Privaten auch in der Politik hat sich das Verhältnis von Journalisten und Politikern gewandelt. Was als journalistisches Tabu galt, ist aufgeweicht worden; auf die Gültigkeit des stillschweigenden Agreements oder auch des ausgesprochenen Stillhalteabkommens können sich Politiker nicht mehr verlassen. Da die Politik aber ihrerseits längst begonnen hat, das Private für sich zu instrumentalisieren, dient dieses Verhalten dann auch schon als Rechtfertigung für die journalistische Grenzüberschreitung. So rechtfertigte der Anwalt des Bauer-Verlages den - als solchen vom Hamburger Landgericht verurteilten - Eingriff in die Privatsphäre des Bundeskanzlers mit dem Argument: "Wenn der Medienkanzler Schröder seine Privatsphäre so weit öffnet wie im Fall seiner Cousinen, dann muss er damit leben können, dass über seine Privatsphäre gelegentlich auch gegen seinen Willen berichtet wird."

Indem Politiker auch das Private für ihre Selbstdarstellung einsetzen, geben sie - scheinbar - den Blick auf ihre Privatsphäre frei. Durch deren Inszenierung versuchen sie indessen, in der Hand zu behalten, was davon öffentlich wird. Ebenso wie die geschickte Inszenierung des Geschehens auf der politischen Vorderbühne, die immer schon ein Thema der Medien war, stellt auch die Inszenierung des Privaten geradezu eine Herausforderung für journalistische Recherche dar. In den USA wird indessen ein geringer Widerstand der Journalisten gegenüber den Umarmungen der Politik schon seit einiger Zeit bemerkt und in Europa, wo Ähnliches festgestellt wurde, nun sogar als ein Indikator für diese "neue" Art von Amerikanisierung gehandelt. Die Orientierung der Politiker an den medialen Aufmerksamkeitskriterien, die diejenigen des unterhaltungsorientierten Fernsehpublikums sind, hat außerdem Folgen für die Rekrutierung der politischen Elite. Ein Politiker, der Karriere machen, also gewählt werden will, hatte sich bislang auf zwei "Märkten" zu bewähren, auf dem unterschiedliche Auswahlkriterien gelten: Um als Kandidat aufgestellt zu werden, musste sich ein Politiker in der Partei hervortun, sich durch Leistung für Partei und Programm beweisen. Politiker, die sich nun vorrangig am zweiten "Markt" - also an den Medien und an der Wählerschaft - orientieren und dessen Aufmerksamkeits- und Auswahlkriterien im Blick haben, zwingen dann auch dem ersten, der Partei, neue Auslesekriterien auf oder machen diese sogar obsolet. Damit öffnet sich das politische Geschäft aber auch solchen Persönlichkeiten, die zwar den Selektionskriterien der Parteien nicht genügen, es dafür aber umso besser verstehen, die Aufmerksamkeit des Medienpublikums bzw. der Wählerschaft zu finden. Die Parteien kommen so unter Umständen in Zugzwang, weil sie an der Attraktivität eines Kandidaten für die Medien und deren Publikum nicht mehr vorbei können und ihnen von dorther ein Kandidat gewissermaßen aufgezwungen wird. [...]

Welchen Anteil das Privatleben eines Politikers an dem Bild hat, das sich die Bevölkerung von ihm macht, und inwieweit es sich womöglich auf die Wahlentscheidung auswirkt, ist nicht so einfach zu ermitteln. Befunde aus den USA, die dem Privaten durchaus einen Einfluss auf das Image eines Kandidaten und seine Wahlchancen zuweisen, können wir hier schlecht übertragen. Für die Bundestagswahl 1998 konnte nun aber gezeigt werden, dass Meinungen über das Privatleben von Helmut Kohl und Gerhard Schröder in der Wählerschaft verbreitet waren und von ihnen auch ein Einfluss auf die Wahlentscheidung ausging. Es wird sich erweisen müssen, ob das ein Spezifikum der letzten Bundestagswahl war - mit einem Kanzlerkandidaten, der das Private nicht erst im Wahlkampf nach außen trug - oder ob sich damit ein Medientrend angekündigt hat. Wenn das aber so ist, dass 1998 kein Einzelfall war, dann schlägt auf die Politiker also zurück, was sie durch ihre Selbstdarstellungsstrategien provoziert haben.

Aus: Christina Holtz-Bacha: Das Private in der Politik: Ein neuer Medientrend? In: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 41-42/2001, S. 20 - 26.


 

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