Das Fernsehen hat den Wahlkampf gewonnen. Und nun beschwert es sich auch noch darüber. Nun werden sie also am Sonntag abend wieder ins Licht der Kamera treten, die bestätigten Strahlegesichter und die Enttäuschten. Auch der mündige Bürger ist wieder dabei. Natürlich auf der Seite des Siegers.
Die Party wird vorbei sein, 2000 Minuten Wahlsendungen allein bei ARD und ZDF verstrichen. Die beste Inszenierung ist prämiert, der Kanzler abgewählt oder bestätigt. Wir werden wissen, dass die besten Polit-Entertainer aus mehr als 50 Fernsehdiskussionen gewonnen haben werden, die überzeugendsten Verkäufer und die klügsten Werbestrategien. Der Fernsehunterhaltungswahlkampf hat sich in all seinen Facetten gezeigt, die politische Prominenz hat mehr als die Hälfte ihrer Zeit für Medienauftritte genutzt, diskutiert, gekocht und geplaudert, auf Parteibühnen Entschlossenheit und Kompetenz simuliert. [...] Überall Angebote aus der Sinn- und Unsinnproduktion, wohin wir nur geschaut haben, und das alles für ein Ereignis, das Bundestagswahl heißt, Personality-Show bedeutet und irgend etwas mit Deutschlands Zukunft zu tun hat.
Noch nie zuvor bei einer deutschen Wahl gab es im Vorfeld ein Fernsehtheater in diesem Ausmaß. Ein Kampf der medialen Kreationen und Personen und ihrer Identifikationsangebote für den Wähler, der nicht nur wie gewohnt im, sondern vor allem für das Fernsehen gespielt wurde. Die verschwommenen Konturen der Konsensarrangeure freilich stellten das Medium vor ein bisher ungekanntes Problem. Weder Kohl noch Schröder lieferten tatsächlich zugespitzte Themen und damit hinreichend Zündstoff für echte Debatten im Fernsehen. Der "spannendste Wahlkampf, den es je gab", mit dem ARD und ZDF die Quote ihrer Wahlsendungen zu steigern suchten, fand nicht statt.
Die Irritationsphase dauerte allerdings nur kurz und produzierte rasch ein neues Thema. "Geht es denn nur noch um die Wirkung der Politik im Fernsehen?" fragte eine besorgte Sabine Christiansen die Wahlkämpfer im Studiosessel, Günther Verheugen und Norbert Blüm. Deren Situation hätte paradoxer nicht sein können. Ihre kunstvolle Verneinung der Frage bestätigte den Vorwurf auf glänzende Weise. [...]
Die Lüge wird verziehen, nicht die schlechte Inszenierung
In solcher Lage laufen die Anklagen der Moderatoren ins Leere. Natürlich sagt keiner die ganze Wahrheit und traut sich, auch Unpopuläres auszusprechen. Das Schicksal der Grünen belehrt ja unmissverständlich über die goldene Fernsehregel, geschminkt und getarnt bleiben zu müssen bis zum Wahltag. Da hatte sich die Ökopartei mit ihrer unbequemen Benzinpreisforderung von fünf Mark so arglos den Gesetzen des Fernsehwahlkampfes entzogen, dass das Fernsehen sich sofort darüber empörte. Kopfschüttelnd über so viel Dummheit, belehrte die große Fernsehkoalition die Grünen unverzüglich darüber, dass man das Bundesvolk zwar mit vermeintlichen Steuergeschenken belügen, aber nicht mit hohen Benzinpreisen und der Einschränkung von Fernflugreisen erschrecken dürfe.
Die Übereinstimmung aller Benzinpreis-Entsetzten war so groß, dass nicht einmal auffiel, welche eigenartigen Mechanismen hier zum ersten Mal in der deutschen Geschichte ungehemmt zur Anwendung kamen. Der mehrheitliche Vorwurf lautete ja nicht, die Forderungen seien völlig absurd, sondern man dürfe sie der deutschen Öffentlichkeit nicht auf eine solch naive Weise im Fernsehen sagen. Hatte man Lafontaine 1990 die ehrliche Ankündigung der anstehenden Kosten der deutschen Einheit erst im nachhinein als taktischen Fehler vorgeworfen, so folgt heute die Schelte des Mediums auf dem Fuß. Dass man sich wie die Grünen durch einen naiven Vorstoß gegen die Medienwahlkampfgesetze in fast einhelliger Fernsehmeinung über Monate als politische Kraft diskreditierte - das ist wirklich neu!
Gegen die vom Fernsehen streng überwachte Vorschrift zur telegenen Inszenierung bleibt alle vorgebliche Moral blass. "Schein" und "Sein": Am Ende der neunziger Jahre verlieren diese Begriffe selbst in der Politik in einem Tempo an Bedeutung, das niemand zuvor prognostiziert hatte. An der Stelle echter Schelte für die Staats-Schauspieler gibt es gute Noten für das beste Theater. [...] Das Fernsehvolk, tadelten die, die es besser wissen, verzeiht oder vergisst jede Lüge, aber keine schlechte Inszenierung.
Kein Wunder, dass die Strategen der großen Parteien den Fernsehjournalisten zum ersten Mal risikolos die Türen zu ihren Wahlkampfzentralen öffneten und ihre Volksverführungstricks stolz und offen präsentierten. [...]
Das Spiel mit offenen Karten hat Methode. Seit im vergangenen Jahr Clinton-Berater Dick Morris der staunenden amerikanischen Öffentlichkeit die Werbetricks erzählte, mit denen er seinen Präsidenten wie einen Schokoriegel vermarktet hatte, ist völlige Transparenz ein Kriterium für Modernität. War schon bei Jurassic Park und Godzilla kein Monsterschnaufen so spannend wie der Blick hinter die Kulissen, so gilt das gleiche für den Wahlkampf. Das Wissen um Tricks und Taktiken verschafft eine geradezu wundersame Authentizität. Je mehr die Politik vorführt, wie sie den Wähler vorführt, um so netter und verzeihlicher erscheint ihr Betrugsversuch - das steigert zugleich den Sympathiewert. [...]
Die Wähler selbst hingegen, so scheint es, haben die Indifferenz von Wahrheit und Fiktion weitgehend akzeptiert. Eine Weisheit, die sich selbst bis zur Bild-Zeitung herumgesprochen hat. Über Sieg oder Niederlage, erfuhren die Leser, entscheiden nicht Inhalt oder Aufrichtigkeit, sondern die "gewieftere Taktik", die "klügeren Berater" und die "packenderen Wahlreden". In einer über Jahrzehnte mit Werbespots grundversorgten Fernsehnation ist Wählen eine Frage des Konsums und nicht der Moral. Ein Lifestylephänomen unter vielen anderen. "Wählen gehen!" alberte vergnügt ein Automobilhersteller und präsentierte als Kandidaten sein neues Modell. Mit gleichem Slogan verwendet sich Günther Jauch kess für eine Lotterie. "Wählt den Whopper!" witzelte eine Fast-food-Kette. [...]
Die im Wortspiel angedeutete Macht des Fernsehens über die Politik verrät mehr über den Stand der Gesellschaft als jede politische Debatte. Wer heute in Deutschland um die Stimme des Wählers ringt, ist längst nicht mehr Repräsentant einer Demokratie, sondern einer neuen Konstitution. Fernsehdemokratie ist nicht gleich Demokratie plus Fernsehen, sondern eine eigenständige Staatsform, die mit Demokratie soviel zu tun hat wie Donald Duck mit einer Stockente. Der Wähler kürt fiktionale Heroen, von denen große Leistungen in der Realität kaum zu erwarten sind: Die Handlungsspielräume in der Welt des globalen Markts sind gering. Doch wann auch immer sie im Fernsehen erscheinen, glauben wir gerne, dass die so strahlend und übermächtig ins Bild gesetzten Helden tatsächlich Geschichte machen. [...]
Bezeichnenderweise tun sie uns dabei den symbolischen Gefallen, trotz aller behaupteten Größe hochempfindlich auf jede momentane Wählerstimmung zu reagieren, und erzeugen damit beim Wähler die wunderschöne Illusion, Teil einer bewegten Volksgemeinschaft zu sein, zusammengeschweißt durch die Teilhabe an einer spannenden Entscheidung, die in solch großartiger Form sonst nur bei der Fußball-WM zu haben ist. Hier wächst, in der schönen Formulierung Peter Sloterdijks, zusammen, was sich zusammen fernsieht. [...]