Das Hat die Dorfkneipe im Internet-Zeitalter bald als Wahllokal ausgedient?
Werden Europäer schon bei der nächsten Europa-Wahl im Jahre 2004 ihre Stimme auch "online" über Mobiltelefon oder Heimcomputer abgeben können? Solche Internet-Wahlen, die manch einem auf den ersten Blick noch futuristisch erscheinen mögen, sind für die Studierenden der Osnabrücker Universität längst Wirklichkeit, haben sie doch schon im Februar - weltweit als Erste - eine rechtskräftige Internet-Wahl (Studentenparlament) abgehalten. Osnabrücker Studenten, die sich in Washington und Sydney aufhielten, hätten zeitgleich mit ihren Kommilitonen abstimmen können. Mit seiner Weltpremiere überholte Osnabrück sogar die Vereinigten Staaten, fand die ersten "online"-Wahlen dort doch erst am 11. März statt. Die Einwohner Arizonas konnten per Internet über Präsidentschaftskandidaten abstimmen. Zwölf amerikanische Bundesstaaten erwägen, Internet-Wahlmöglichkeiten anzubieten.
Die Bundesregierung fördert solche deutschen Forschungsprojekte und hat dafür 1,3 Millionen Mark bereitgestellt, glaubt man in Berlin doch, demokratische Entscheidungsprozesse so nicht nur stärken, sondern auch beschleunigen zu können. Rückläufige Wahlbeteiligungen sollen dann, wenn man über Mobiltelefon oder Computer abstimmen kann, möglichst ins Gegenteil verkehrt werden. Doch was in der Theorie einfach klingt, wirft in Wirklichkeit schwierige Fragen auf: Wahlen müssen geheim sein. Im Internet kann man jedoch, entsprechende "Tools" vorausgesetzt, jeden Mausklick zurückverfolgen. Wie soll eine Wahlentscheidung da geheim bleiben? Wie will man sicherstellen, dass ein Nicht-Berechtigter seine Stimme abgibt? Und wie will man verhindern, dass Hacker Stimmen fälschen? Können durch das "Knacken" eines Programmes dann Wahlergebnisse manipuliert werden, wo es doch heute noch immer aufwendig ist. Wahlergebnisse auch nur von einem Wahlbüro zum nächsten zu übermitteln?
Bruce Schneier, einer der bekanntesten amerikanischen Sicherheitsberater, hält denn auch Wahlen im Internet in absehbarer Zeit nicht für sicher: "Das Problem mit einer Wahl ist, dass es keinesfalls einen Irrtum geben darf. Alles muss perfekt sein. Und wenn man überhaupt etwas über Computersicherheit gelernt hat, dann, dass sie niemals perfekt ist." Wer wollte angesichts solch deutlicher Worte nicht seine Zweifel an der Sicherheit von "online"-Wahlen haben? Wahlsoftware muss nicht nur zuverlässig, sondern auch sicher arbeiten. Ohne dieses Vertrauen wird man wohl kaum Menschen zu einer rein technischen Wahl bewegen können. Und um dieses Vertrauen bemüht sich die deutsche "Forschungsgruppe Internetw@hlen". Nach ihrer Auffassung wird das deutsche "i-vote-System" Angriffe von außen unmöglich machen. Dessen Verschlüsselungstechnologie, die Möglichkeit sich mit einer digitalen Signatur zu identifizieren und ein so genanntes Anonymisierungsverfahren sollen die Voraussetzungen dafür bilden, dass Wähler künftig der Gang in eine Wahllokal dienende Dorfkneipe erspart bleiben wird. Die digitale Signatur wird durch einen elektronischen Ausweis möglich, bei dem eine Zahlenkombination die eigenhändige Unterschrift ersetzt. Doch die Wahl wäre nicht anonym, solange eine E-Mail oder sonstige Nachricht zum Absender zurückverfolgt werden könnte. Das soll das Anonymisierungsverfahren verhindern.
Dennoch gibt es weiterhin Sicherheitsbedenken: Um Stimmberechtigungen zu prüfen, muss man auch die Identität prüfen. Doch die Identität muss geheim bleiben. Deshalb sendet der "i-vote"-Wähler zunächst einen chiffrierten virtuellen Umschlag an das Wahlamt, das die Identität des Absenders prüft und den virtuellen Umschlag mit einer digitalten Signatur beglaubigt zurückschickt. Der Absender dechiffriert den beglaubigten Stimmzettel und kann ihn ausgefüllt - und anonym - in die virtuelle Urne einwerfen. Doch die Entwickler von "i-vote" können nicht ausschließen, dass die Software des Wahlamtes manipuliert und dessen Signatur dazu missbraucht werden könnte, um in ihr auch Informationen über den Wähler unterzubringen. Dann aber wüsste das Wahlamt auch, wer wie gewählt hat. Schließlich könnte ein virtuelles Wahlamt zum Zeitpunkt der Stimmabgabe auch noch durch jene Viren lahm gelegt werden, die unter den Namen "Melissa" und "I love you" unlängst Milliardenschäden in der Wirtschaft verursachten.
Gegen solche Angriffe gibt es keinen ausreichenden Schutz. Neben Sicherheitsbedenken gilt es in Deutschland auch noch rechtliche Hürden zu nehmen. So lässt das Bundesverfassungsgericht die Briefwahl nur in Ausnahmefällen zu, damit eine Wahlentscheidung unabhängig von der Einflussnahme Dritter bleit. In der Wahlkabine einer Dorfkneipe kann man sich sicher sein, dass niemand Einfluss auf die Wahlentscheidung nimmt. Doch bei einer "online"-Wahl ? Das Grundgesetz müsste dafür erst noch geändert werden. Dennoch wird man "online"-Wahlen wohl nicht aufhalten können. In Brandenburg wählten am 23. Juni die 329 Mitarbeiter des Landesamtes für Datenverarbeitung und Statistik in einer simulierten Wahl "online" einen fiktiven Personalrat. Landtagspräsident Knoblich, der an der Präsentation teilnahm, hob hervor: "Darin liegt die Zukunft."