M 08.03 Umfragen: Debakel oder Orakel?
 


Wahlprognosen liegen trotz vieler Fehlerquellen selten voll daneben. Ein langer Wahlkampf gleicht einem Marathon. Was dem Langstreckenläufer die letzte Zwischenzeit, das ist dem Politiker die neueste Meinungsumfrage: Reicht der Vorsprung? Kann der Rückstand aufgeholt werden? - So oder ähnlich lauten die bangen Fragen an Trainer oder Meinungsforscher.

Während jedoch eine sportliche Zwischenzeit nur einen Fingerdruck auf die Stoppuhr kostet, müssen für eine Wahlumfrage bis zu 150 000 DM auf den Tisch gelegt werden. Auf die derart teuer erkauften Antworten können sich Politiker und Öffentlichkeit dann nicht einmal mit derselben Sicherheit verlassen wie die Sportler.

Will der Trainer seinem Schützling vom Rande der Aschenbahn eine korrekte Zwischenzeit zurufen, muß er nur zum richtigen Zeitpunkt auf die Stoppuhr drücken. Meinungsforscher haben es da schwerer: Für ihre Wahlumfragen und -prognosen brauchen sie ein umfangreiches sozialwissenschaftliches Instrumentarium, das zudem erheblich anfälliger für Fehler ist als die simple Stoppuhr.

Um so erstaunlicher, daß Wahlprognosen und tatsächliche Wahlergebnisse zumeist nahe beieinander liegen. Ausnahmen gab und gibt es - seit dem Aufkommen der politischen Meinungsumfrage in den 60er Jahren - regelmäßig dann, wenn Neues und Unerwartetes passiert, wie zuletzt etwa beim Erscheinen der Republikaner auf der politischen Bühne oder bei den DDR-Wahlen im März, als fast alle Meinungsforschungsinstitute mit ihren Prognosen voll daneben lagen.

Die Zuverlässigkeit jeder Wahlprognose leidet darunter, daß sie nur auf einer Stichprobe basiert. Aus ganz praktischen und finanziellen Gründen kann nicht jeder Stimmberechtigte befragt werden. Das ist auch gar nicht nötig, sagen die Meinungsforscher und befragen statt dessen den sogenannten "repräsentativen Querschnitt". Der Witz dieser "durchschnittlichen" Idee: Jene 1.000 bis 2.000 Bürger, die befragt werden, sollen in wichtigen soziologischen Merkmalen - wie Alter, Konfession und Familienstand - der Gesamtbevölkerung entsprechen. Doch das ist der Idealfall - nicht zu verwechseln mit der oft praktizierten Zufallsstichprobe. Wird an einem Montagvormittag 1.000 zufällig ausgewählten Bürgern telefonisch die berühmte Sonntagsfrage (Welcher Partei würden sie ihre Stimme geben, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?) gestellt, so sind die Antworten keineswegs repräsentativ für die Gesamtbevölkerung. Denn ausgeschlossen sind bei dieser Umfrage alle Berufstätigen und alle jene, die kein Telefon besitzen.

Solche Zufallsstichproben als repräsentativ zu verkaufen, ist nach Ansicht des Wuppertaler Mathematik-Professors Fritz Ulmer ein "reiner Etikettenschwindel". Veränderungen von wenigen Prozentpunkten, die das Auf und Ab der Parteien in der Wählergunst zeigen sollen, haben für ihn nur "Horoskop-Charakter". Daran könne auch die Umgewichtungsprozedur nichts ändern, mit der die Meinungsforscher aus den per Umfrage gewonnenen Rohdaten Prognosen machen.

Eine Gewichtung der Rohdaten erfolgt beispielsweise dann, wenn sich bei der Auswertung der Umfrage herausstellt, daß wichtige Merkmale unter den Befragten nicht in der gleichen Verteilung vorkommen, wie laut Volkszählung in der Gesamtbevölkerung. In solchen Fällen tricksen die Meinungsforscher mit der "demographischen Umgewichtung": Unterrepräsentierte Gruppen werden auf-, überrepräsentierte Gruppen abgewertet.

Die von Ulmer gescholtenen Wahlforscher reagieren gelassen auf dessen Vorwürfe. Für Manfred Güllner, Chef des Dortmunder Meinungsforschungsinstitutes Forsa, schießt die Kritik des Mathematik-Professors "am Ziel vorbei". Das "Handwerkszeug" seiner Branche sei schließlich mit wissenschaftlichen Methoden über Jahrzehnte hinweg kontinuierlich entwickelt worden. Nach Ansicht der Bamberger Wissenschaftler Hans Rattiger und Dieter Ohr beanspruchen wirklich seriöse Prognosen nicht, daß sie bei einem erwartet knappen Wahlausgang Sieger und Verlierer vorhersagen können. Eine nach allen Regeln der Kunst erstellte Prognose von 37 Prozent der Stimmen besage nur, daß das tatsächliche Wahlergebnis mit 95prozentiger Wahrscheinlichkeit zwischen 36 und 38 Prozent liegen werde. "Größere Genauigkeit wird nicht beansprucht."

Außer mit den erwähnten Ungenauigkeiten der Stichprobe, müssen die Meinungsforscher eine wahre Flut weiterer Fehlerquellen eindämmen. Schließlich kann zwischen dem Zeitpunkt der Umfrage und dem Wahltag einiges passieren. Viele Befragte ändern ihre Meinung und wählen anders als angegeben. Für die Meinungsforscher ist dieser "last minute swing" eine beliebte Entschuldigung für "unerklärliche" Fehlprognosen. (... )

Andreas Hartmann

Aus: Münstersche Zeitung, 27.11.1990.
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