M 08.05 Der unerforschliche Wähler
 


Umfragen, die Monate oder Wochen vor dem Wahltag veröffentlicht werden, können nicht das endgültige Wahlergebnis vorhersagen. Was für jeden Meinungsforscher selbstverständlich ist, darüber muß so mancher Wähler immer wieder aufgeklärt werden: Umfrageergebnisse vor Wahlen sind nur im Sinne von Wahrscheinlichkeiten zu verstehen; sie müssen gehörige Fehlertoleranzen zulassen. Werden zum Beispiel in einer repräsentativen Erhebung tausend Personen befragt, welche der großen Parteien sie wählen werden, ist ein Fehlerbereich von plus/minus drei Prozent einkalkuliert. Selbst wenn man durch fortlaufende Befragungen oder durch eine Verdopplung des befragten Personenkreises diesen Fehlerbereich etwas verkleinern kann, so bleibt ein Gesamtergebnis - wenn etwa Regierungs- und Oppositionslager Kopf an Kopf liegen - nur schwer prognostizierbar. Das war in der Bundesrepublik häufig der Fall. Die kleinen Parteien, die mit der Fünfprozentklausel des Wahlrechts zu kämpfen haben, können sich erst recht nicht auf Umfragen verlassen, in denen ihr Einzug ins Parlament mit sechs oder sieben Prozent vorausgesagt wird.

Die zahlreichen Fehlerquellen und Unsicherheitsfaktoren von Wahlprognosen - unentschiedene Wähler, Nichtwähler, taktische Wechselwähler, Meinungsumschwünge in letzter Minute, gefälschte oder durch Fehler in der Bevölkerungsstatistik verzerrte Erhebungsdaten - lassen die Demoskopen häufig zu Methoden greifen, die sie wie Betriebsgeheimnisse hüten. Die in repräsentativen Umfragen erhobenen "Rohdaten" werden nach mehr oder weniger bewährten Faustregeln nachgebessert: überproportionaler Anteil von Konservativen unter unentschlossenen Wählern, häufige Überbewertung der Grünen und Unterschätzung der Liberalen in den Rohwerten der Befragung. Ein Recall-Verfahren, in dem sich der Befragte erinnern soll, hinter welcher Partei er bei der letzten Wahl sein Kreuzchen gemacht hat, erlaubt den Vergleich mit dem tatsächlichen Wahlergebnis und damit eine entsprechende Umrechnung der Rohdaten; in der Erinnerung überbewertete Parteien werden heruntergewichtet und umgekehrt. Nicht selten wird ein Blick auf die abweichenden Wahlprognosen der Konkurrenz geworfen und der Korrekturstift nochmals angesetzt. Angesichts solcher Fehlerquellen und Bereinigungsmethoden spricht der Hamburger Politikwissenschaftler Peter Raschke von Handwerkelei: Nicht wissenschaftlich abgestützte Theorien über das Wahlverhalten, sondern pragmatische Ad-hoc-Annahmen gäben den Prognosen ihren Feinschliff.

Auch die Abhängigkeit der meisten Umfrageinstitute von Parteien oder anderen politisch ausgerichteten Institutionen wird immer wieder kritisiert. Zwar kann es sich kein Wahlforscher leisten, Daten zu fälschen. Jede Wahl ist auch ein Härtetest, der ins Zwielicht geratene Institute aus dem Rennen werfen könnte. Aber mit jeder Umfrage erhält der Auftraggeber Spielräume für eine interessengeleitete öffentliche Interpretation. Wenn heute jeder dritte Befragte noch nicht oder noch nicht ganz sicher ist, welcher Partei er am 2. Dezember [1990 Anm. der Red.] seine Stimme geben wird, dann ist dies für Wahlstrategen der SPD ein Grund, Zuversicht zu verbreiten, und für ihre Kollegen von der Union ein Anlaß, Mahnungen auszusprechen. Um die Mobilisierung von Wählerreserven geht es in beiden Fällen.

Solche Umfragespiele der Parteien bringt die Demoskopen immer wieder in Verruf. In Frankreich ist seit 1977 ein Gesetz in Kraft, daß die Veröffentlichung von Umfrageergebnissen ebenso wie Kommentare darüber eine Woche vor jeder Wahl und vor jedem Referendum verbietet. Brauchen wir in der Bundesrepublik ein ähnliches Verbot? Wer dies bejaht, sollte bedenken, daß er damit der politischen Klasse einen Wissensvorsprung verschafft und einem intelligenten Zeitgenossen das Wasser abgräbt - dem taktischen Wechselwähler. Er ist sowohl ein Produkt wie ein Störfaktor der demoskopisch informierten Mediendemokratie. Ohne Wahlprognosen könnte er keine Wahlprognosen scheitern lassen.

Norbert Kostede

Aus: Die Zeit, 48/1990.
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