M 08.08 Auswirkungen auf den Wahlprozeß
 


Welche Auswirkungen haben Meinungsforschung und Umfrageergebnisse auf den Wahlprozeß in der Bundesrepublik; wie beeinflussen sie Meinungsklima und Parteienwettbewerb? Bedeutsam scheinen insbesondere vier Wirkungszusammenhänge:

1) Die Vielzahl sich teilweise widersprechender Umfrageergebnisse verunsichert Parteien, Medien und Wähler. (... ) Zugleich rückt die ständig neu belebte Diskussion nach dem (den) möglichen Wahlsieger(n) in den Mittelpunkt der politischen Auseinandersetzung.

2) Werden - vermittelt durch Umfragen und Medien - die situativen Einflußfaktoren von Wählerentscheidungen (etwa das Meinungsklima hinsichtlich der Einschätzung des oder der Wahlsieger, der Kandidatenalternative, des Kanzlerbonus etc.) zum bestimmenden Element des Wahlkampfes, kommt dies in der Bundesrepublik in aller Regel den jeweiligen Regierungs-, nicht jedoch den Oppositionsparteien zugute.

3) Die Umfrageergebnisse liefern zudem die Orientierung für taktisches Wahlverhalten, das bei Wahlen in der Bundesrepublik definiert wird durch die verbreitete Skepsis in der Wählerschaft gegenüber absoluten Regierungsmehrheiten einer Partei einerseits und den Wirkungen der 5 % Sperrklausel andererseits. Damit hängen die Aussichten der beiden kleinen Parteien, FDP und GRÜNE, unter den aktuellen blockartigen Konstellationen im Parteiensystem zum einen davon mit ab, ob man ihnen in der veröffentlichten Meinung reelle Chancen einräumt, die Sperrklausel zu überspringen, sowie zum zweiten davon, ob sie als Koalitionspartner benötigt werden, ob also die Meinungsumfragen CDU/CSU oder SPD eine reelle Chance auf die absolute Stimmen- oder Mandatsmehrheit signalisieren. Im ersten Falle treffen taktisch orientierte Wähler eher eine Koalitionswahlentscheidung, entsteht folglich ein Bandwagon-Effekt zugunsten der kleinen Partei, im zweiten Fall entscheiden sich solche Wähler dagegen eher für die große Partei, tritt ein Bandwagon-Effekt zu deren Gunsten ein.

4) Mindestens so wichtig sind die Wirkungen, die aus der Politikberatung der Meinungsforscher, insbesondere ihrer aktiven Beteiligung an der Planung und Durchführung der Wahlkämpfe resultieren. Die Demoskopen bestimmen dabei heute Formen wie Inhalte der Politik maßgeblich mit. Von ihren Untersuchungen hingen Auswahl und Inhalt von Issues und Wahlslogans mit ab; sie analysieren, welche Wählerpotentiale von den Parteien wie zu gewinnen sein könnten; sie beeinflussen die Nominierung der Spitzenkandidaten der Parteien und sind an deren Imagebildung beteiligt. In ihrem Ergebnis für den Wahlprozeß verstärkt die politikberatende Demoskopie dabei die Wirkungen, die von der weitestgehenden Medienvermittlung der Politik, vor allem vom elektronischen Massenmedium Fernsehen ausgehen. Beide verstärken die ohnehin vorhandenen Tendenzen der Personalisierung, Emotionalisierung und Ritualisierung der Politik. Demoskopie und Medienvermittlung unterstreichen aber vor allem die Mediatisierung des Bürgers. Politik wird von ihm nicht mehr direkt erfahren, geschweige denn aktiv gestaltet. Dies verbreitert die Distanz zwischen Wählern und Gewählten, erschüttert das Vertrauen in den repräsentativ-demokratischen Prozeß, führt zum Funktionsverlust von Wahlen und trägt bei zur "politischen Unterforderung" der Wähler.

Wie aber kann man diesem Trend zu einer immer stärker durch Medien und Demoskopie vermittelten politischen Entscheidungsfindung, in der die aktive Mitwirkung des Bürgers durch die nunmehr passive Befragung ersetzt wird, sinnvoll begegnen? Sicherlich nicht durch ein Verbot der Demoskopie schlechthin oder auch nur durch ein Veröffentlichungsverbot von Umfrageergebnissen während des Wahlkampfes. (... )

Die Meinungsforscher sollten sich endlich und uneingeschränkt zu ihrem eminent politischen Charakter bekennen; sie sollten zudem ihre Methoden und Techniken offenlegen, die methodisch bedingten Grenzen und Fehlerquellen ihrer Untersuchungen eingestehen. Aus der Standortgebundenheit empirischer Sozialforschung folgt des weiteren die Forderung nicht allein nach der Pluralität der Institute und der Auftraggeber, (... ) sondern auch und gerade die Forderung nach der Pluralität der vertretenen Interessenperspektiven und demokratietheoretischen Optionen. (...) Im Kontext von Wahlen bedeutet dies konkret u.a.: Kritische Untersuchungen zur Politikberatung und zum Verhältnis von Demoskopie und Parteien; Wahlkampfanalysen, die frei sind von direkter Beteiligung an den Wahlkampfplanungen der Parteien. Und es bedeutet generell: mehr Demokratieforschung und mehr Analysen der Willensbildung, weniger Wahlprognosen und Einstellungsforschung.

Rainer-Olaf Schultze

Aus: Das Parlament, 37/38, 1986, S. 15.
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