BERLIN, 1. Oktober. Im Jahr Zehn der Einheit ist die Mehrheit der Deutschen
mit dem Verlauf der Wiedervereinigung zufrieden. Allerdings gibt es zwischen
Ost- und Westdeutschen in der Beurteilung noch immer gravierende Unterschiede.
Das ergab eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Infratest
Dimap im Auftrag der "Berliner Zeitung". Befragt wurden 1018 Bürger aus dem
Bundesgebiet in der Zeit vom 12. bis zum 18. September dieses Jahres. Klare
Erkenntnis der Meinungsforscher: Viele Ostdeutsche sind weitaus unzufriedener
mit den Lebensbedingungen im geeinten Deutschland als ihre Mitbürger im Westen.
[…]Auf die Frage: "Sind Sie mit der Demokratie sehr zufrieden, zufrieden, weniger
zufrieden oder gar nicht zufrieden?" antworten 70 Prozent der Bürger im Westen,
sie seien sehr zufrieden oder zufrieden. Im Osten äußern sich nur 46 Prozent
anerkennend zur Demokratie, 52 Prozent sind weniger oder gar nicht zufrieden.
Das wirtschaftliche System belegt den zweiten Platz auf der allgemeinen Zufriedenheits-Skala.
[…] Hier erklären 60 Prozent der Menschen im Westen, sie seien zufrieden mit
dem ökonomischen System. Auch die soziale Absicherung im Notfall wird von der
Mehrheit der Westdeutschen positiv bewertet (53 Prozent), kritisch sehen dies
43 Prozent. Mit dem Rechtsstaat sind in Westen Deutschlands 56 Prozent der Bürger
zufrieden.
Wie in der Frage der Demokratie überwiegt das positive Bild vom Wirtschafts-
und Rechtssystem aber nur in den alten Bundesländern. Viele Menschen in Mecklenburg-Vorpommern,
Brandenburg, Thüringen, Berlin, Sachsen und Sachsen-Anhalt stehen den Strukturen
distanziert und kritisch gegenüber. So sind nur 38 Prozent der Ostdeutschen
mit dem Wirtschaftssystem zufrieden. Der Rechtsstaat findet im Osten mit 28
Prozent nicht annähernd die Anerkennung, die er im Westen genießt.
Dennoch gibt es durchaus Bereiche, in denen die Bilanz der Vereinigung auch
im Osten positiv ausfällt. In den neuen Ländern besteht die größte Zufriedenheit
beim Thema Umweltbedingungen. Diese werden von 56 Prozent der Ostdeutschen gelobt.
Mittlerweile sind die Bürger im Osten Deutschlands damit sogar zufriedener als
die Bürger in den alten Bundesländern (48 Prozent). "In diesem Feld waren die
Defizite des alten DDR-Systems genauso deutlich erkennbar, wie es heute die
Erfolge der letzten Jahre sind", erläutern das die Berliner Meinungsforscher.
[…]Weitgehend übereinstimmend fällt das Urteil bundesweit aus, wenn es um die
allgemeine Leistungsfähigkeit des Sozialsystems geht. 52 Prozent aller Deutschen
sind mit der sozialen Absicherung im Notfall zufrieden.
Generell beunruhigt blicken die Deutschen auf die Bereiche, die die Zukunftsfähigkeit
unserer Gesellschaft betreffen. So machen sich die Menschen große Sorgen um
die Wettbewerbs- und Zukunftschancen der Kinder: 58 Prozent der Deutschen sind
unzufrieden mit der Schulausbildung und 69 Prozent beurteilen die Zukunftsperspektiven
ihrer Kinder skeptisch. Auch hier werden noch einmal gravierende Unterschiede
zwischen Ost und West klar: Nur jeder fünfte Ostdeutsche (19 Prozent) glaubt
an eine positive Zukunft der Kinder (im Westen sind es 30 Prozent). […] Negativ
beurteilen Deutsche in Ost und West die Innere Sicherheit. Zwei Drittel der
Bürger zeigt sich unzufrieden mit dem "Schutz vor Kriminalität und Verbrechen",
wobei das Gefühl der Unsicherheit im Osten deutlich größer ist als im Westen.
Hier sagen 77 Prozent der Befragten, sei seien weniger oder gar nicht zufrieden
(West: 63 Prozent).
In jüngerer Zeit hat die Häufung von ausländerfeindlich motivierten Gewalttaten
eine breite Diskussion darüber angestoßen, wie Politik und Gesellschaft mit
Rechtsextremen umgehen sollen. Die Bundesbürger setzen als Reaktion auf die
Übergriffe der vergangenen Monate auf eine Kombination aus staatlichem Druck
und Bürgergesellschaft. Sieben von zehn fordern ein Verbot von rechtsextremen
Parteien wie der NPD. Ebenso viele sind der Meinung, dass die Bevölkerung bei
Übergriffen auf Ausländer häufiger selbst einschreiten sollte.
Aus: Volker ter Haseborg: Im Osten größere Distanz zum demokratischen System. Infratest- dimap- Umfrage zum Verhältnis Ost/West 2000. Berliner Zeitung,02.10.2000. http://www.berlinonline.de/wissen/berliner_zeitung/archiv/2000/1002/politik/0038/index.html (Download am 08.03.2002).
Arbeitsaufträge:
- Worin bestehen die Unterschiede und Gemiensakeiten in Bezug auf Demokratie, Rechtssystem und Wirtschaft in der Einstellung von Ost- und Westdeutschen?
- In welchen Bereichen sind die Einstellungen positiv, wo eher negativ?
- Formuliere Vermutungen, welchen Auswirkungen diese Einstellungen auf den Wahlkampf haben können.
(i) Neuere Untersuchung zum Thema "Stimmung in der Bevölkerung" http://szonnet.diz-muenchen.de/REGIS_A14064658
Bericht beruht auf der Internetumfrage "Perspektive Deutschland", die gemeinsam
von der Unternehmensberatung McKinsey, dem Magazin Stern und der Telekom - Tochter
T-Online Ende vergangenen Jahres erhoben wurde.