[…] Im September 1989 reisten in drei Tagen 15'000 Bürgerinnen und Bürger der DDR über Ungarn in die Bundesrepublik; fast 50 000 folgten bis zum 9. November über die CSSR. Im Oktober 1989 war die Anzahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den Leipziger Montagsdemonstrationen auf über 100 000 angestiegen, im November dann auf 500 000 in Leipzig und in Ost-Berlin. Diese Zahlen sind beeindruckend. An anderer Stelle habe ich die Motive der Bürgerinnen und Bürger analysiert: Die Bürgerinnen und Bürger waren ,,Helden aus Verzweiflung". Zehn Jahre nachdem Günter Schabowski am 9. November 1989 die Erleichterung der Visa-Vergabe verkündet hatte, die nur Stunden später zur Öffnung der Mauer führte, interessiert mich heute, was wir aus dem Geist weniger Tage und Wochen vor und nach dem Beginn der Freiheit lernen können, gelernt haben und hätten lernen sollen. Fünf Themen möchte ich im Einzelnen diskutieren.
Erstens: Die Geschichte der DDR ist eine Geschichte der ,,enttäuschten
Hoffnungen". […] Der Rhythmus aus Ankündigung, Enttäuschung und Unterdrückung
manifestierte sich bis zuletzt in Wahlbetrug und Wahrnehmungsverweigerung. Noch
am 8. Mai 1989 meldet das Neue Deutschland zur Kommunalwahl: ,,98,85 Prozent
stimmten für die Kandidaten der Nationalen Front - Eindrucksvolles Bekenntnis
zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus." Weder der deskriptive
Gehalt dieser Schlagzeile war korrekt noch ihre Bewertung. Im Gegenteil: Der
Wahlbetrug rief eine Protestbewegung hervor, die das Ende der DDR auf friedliche
Weise herbeiführte. Viele hatten sich schon mit der Zwangsläufigkeit des Sozialismus
abgefunden. […]Dies geschah auch, weil die herrschende Politik zunehmend undurchführbar,
unglaubwürdig und unansehnlich geworden war. Die Befreiung von der sozialistischen
Diktatur war auch eine Befreiung von einer zweckgeführten Geschichte. 1989 hatten
sich die Bürgerinnen und Bürger der DDR von Zuschauern zu Akteuren gewandelt.
Zweitens: Die DDR hatte zwar genügend Arbeitsplätze, aber zu wenig Arbeit
zu bieten. Die Bürgerinnen und Bürger hatten relativ viel Geld zur Verfügung,
aber es gab zu wenig Waren, die sie erstehen konnten. Dieses Verhältnis hat
sich nun umgekehrt. […]Hier sei an zwei Punkte erinnert: Zum einen ist der Anteil
der Arbeitslosen in Ostdeutschland doppelt so hoch wie in den alten Bundesländern;
zum anderen ist der Arbeitsplatz nicht nur Erwerbsquelle, sondern auch Integrationsmittel
einer Gesellschaft. Ein Systemzusammenbruch wie der des real existierenden Sozialismus,
der für zu viele auch den Verlust des Arbeitsplatzes bedeutete, erschwert es
den Bürgerinnen und Bürgern, im neuen System anzukommen. Da gesellschaftliche
Wertschätzung über Arbeit vermittelt wird, schwächt der Verlust des Arbeitsplatzes
das Selbstwertgefühl. Dieser Verlust kann nicht wegdiskutiert werden. Nur ein
neuer Arbeitsplatz kann das Selbstwertgefühl wieder heben. Dieses Problem brennt
auch noch im Jahr zehn der Einheit auf den Nägeln.
Drittens: Es kann nicht häufig genug betont werden, dass sich die Geschichte
friedlich gewendet hat. Weder ordneten die scheinbaren Machthaber eine gewaltsame
Niederschlagung der Proteste an, noch endeten die Demonstrationen der scheinbar
Ohnmächtigen in Gewaltexzessen. ,,Keine Gewalt" war die explizite Parole der
Demonstrierenden. Wut richtete sich höchstens gegen Institutionen - so am 15.
Januar 1990 bei der Erstürmung der Zentrale des damaligen Ministeriums für Staatssicherheit.
[…] Die dann neu entstandenen politischen Parteien und Bewegungen konnten dieses
Potenzial einer aktiven Bürgerbeteiligung nutzen. […] Vielleicht können uns
die Erfahrungen der Wende Ideen zum Ausbau der Zivilgesellschaft in der Bundesrepublik
geben. […].
Viertens: Die Bürgerinnen und Bürger der DDR haben das Glück gehabt,
bei der Abwerfung der real existierenden Diktatur einen Partnerstaat zu haben,
dessen Bürger Landsleute sind. West- und Ostdeutschland entwickeln gemeinsam
ökonomisch und politisch die neue Bundesrepublik. Die Aufbauhilfe bevorteilt
Ostdeutschland gegenüber den anderen Transformationsstaaten. Ohne die Partnerschaft
der alten Bundesländer hätten die neuen Bundesländer länger auf den heutigen
Lebensstandard warten müssen. Die anfängliche Euphonie ist mittlerweile Ernüchterung
gewichen. Eine angemessene Bewertung des Prozesses der Einheit muss ihren Weg
finden zwischen der Charybdis blinden Beifalls für alles Westdeutsche und der
Szylla undankbarer Ungeduld und Resignation auf Seiten der Ostdeutschen. […]
Fünftens: Das Ende der bipolaren Welt hat aus Gegnern Handelspartner gemacht. Das Spannungspotenzial des Kalten Krieges ist verschwunden, aber neue Konflikte sind entstanden. […]
[…] Der Kapitalismus als Wirtschaftsform der Effektivität und Konkurrenz drängte sich in den Vordergrund, ohne von einer tief verwurzelten Demokratie als Politikform der Mitwirkung und Mitentscheidung begleitet zu sein. Statt Mitbestimmung in der politischen Sphäre musste in zu vielen Bereichen die Marktwirtschaft die Last tragen, die deutsche Einheit zu legitimieren. Dieses Gewicht war zu groß. Schlimmer noch: Statt am ungeliebten und erledigten Sozialismus zu leiden, glaubten viele nun, einer Unausweichlichkeit der Marktwirtschaft ausgeliefert zu sein. An die Stelle des ungeliebten und erledigten Sozialismus trat der Glaube an den Determinismus der Marktwirtschaft. […] Rasant wächst zumal vielen Ostdeutschen die Wirtschaft über den Kopf. In Westdeutschland ist ein erstaunlicher Vorgang zu beobachten: In dem Maß, in dem die Einfluss- und Steuerungsmöglichkeiten der Politik zu schwinden scheinen, wird der Legitimationsdruck auf sie erhöht. Leitbild der öffentlichen Diskussion ist stärker als zuvor das Unternehmen. Die Politik ist in die Defensive geraten. Aus der Perspektive des Bürgers ist dies bemerkenswert, da er doch gerade von denjenigen Akteuren die tragfähigste Legitimation verlangen kann, welche die größten Auswirkungen auf sein Leben haben. So wie Effizienz als Nebenkriterium in die Politik Einzug genommen hat, muss die Ökonomie das Kriterium der Gerechtigkeit akzeptieren. […]
[…]Im Kampf für die deutsche Einheit können wir den Glauben an die Gestaltungs- und Veränderungsmöglichkeiten einer zivilen Bürgergesellschaft sehen. Das Diktat einer ,,sozialistischen" Ökonomie wurde gegen alle scheinbaren Zwangsläufigkeiten niedergerungen. Die Zivilgesellschaft hatte damals die Ökonomie und die Politik wieder in den Einflussbereich der Bürgerinnen und Bürger zurückgeholt. Das Interesse eben dieser Bürgerinnen und Bürger ist es, in ihrer Zivilgesellschaft, in der Wirtschaft auch Arbeit zu finden. Die Arbeitslosenzahlen sind seit der Einheit drastisch gestiegen. Das ist nicht der Preis der Einheit, sondern ein Makel, dessen Beseitigung an erster Stelle stehen muss. Die Zivilität der Einheit ist ein gutes Vorzeichen in der Geburtsstunde der neuen Bundesrepublik gewesen. Auf ihr können wir aufbauen. Unser neuer Staat ist friedlich entstanden und auf das Engagement der Bürgerinnen und Bürger gegründet. Besser hätte es kaum kommen können. Diese beiden Elemente der Einheit können und sollten wir weitaus stärker nutzen bei der Bewältigung der Probleme unserer Zeit in Europa und darüber hinaus. Geringe Wahlbeteiligungen oder Umfragen, nach denen sich nur ein viel zu kleiner Teil der Ostdeutschen als gleichberechtigtes Mitglied der Bundesrepublik betrachtet, sind angesichts dieser Potenziale der deutschen Einheit Beispiele für das noch nicht vollendete Zusammenwachsen der Zivilgesellschaft im Jahr zehn der Einheit. […]
Aus: Wolfgang Thierse : Bürgerinnen und Bürger der Einheit. Fünf Aspekte des Wandels. In: Aus Politik und Zeitgeschichte B 1/2 - 2000) http://www.das-parlament.de/beilage/beilage_aktuelle.html (Download 08.03.2002).
Arbeitsaufträge:
- Fasse in eigenen Worten die fünf Thesen aus diesem Text von Wolfgang Thierse zusammen. Mit welchen Überschriften könnte man sie versehen?
- Versuche, aus den einzelnen Thesen Konsequenzen zu ziehen. (Was bedeutet das für die weitere Entwicklung? etc.)
- Wo kann man Thierse widersprechen?
- Bei wem wird er als stellvertretender Parteivorsitzender der SPD Zustimmung finden, wo eher nicht (Bundeskanzler Schröder)?
- Erläutere die These "An die Stelle des ungeliebten und erledigten Sozialismus trat der Glaube an den Determinismus der Marktwirtschaft.".