M 09.03 Die deutsche Einheit - aus zwei Perspektiven
 


Jens Reich: […] Mein Urteil über die Wiedervereinigung Deutschlands lautet: Sie war eine historische Notwendigkeit, aber 1989 kam sie "vorzeitig" - bei evolutionärem Verlauf wäre sie erst viel später, mit dem sozusagen "natürlichen" Ende des Sozialismus zustande gekommen. […] Der Westen hätte Reagans "Tear down the wall" als Forderung aufrechterhalten, auf Einführung von Menschen- und Bürgerrechten drängen sowie Wirtschaftsabkommen davon abhängig machen müssen, aber das hieße, geduldig dicke Bretter bohren - und wäre sicherlich kein schneller Triumph gewesen, wie er Helmut Kohl 1990 zufiel. […]Auch die bundesrepublikanische Politik stand unter Druck, wurde zur Eile angetrieben von der DDR-Bevölkerung mit der Drohung "Kommt die D-Mark nicht nach hier, dann gehen wir zu ihr". Die DDR ist somit die erste "Kolonie" der Geschichte, bei der die "Kolonisierten" unter Androhung von Gewalt den Einmarsch der "Kolonialherren" forderten. Der Vereinigungsprozess lief als Übergabe der Souveränität an den Bonner Staat ab. Ausdruck dafür ist der Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Der Einigungsvertrag ist der mühselige Versuch gewesen, dem Vorgang eine einigermaßen geregelte Form zu verleihen. […] Die geschichtliche Bewegung verlief so, dass die Bevölkerung sich in einem friedlichen Aufstand (ob man ihn Revolution nennen soll, bleibe hier dahingestellt, eine spontane "Implosion" des Staates war es jedenfalls nicht) von der Diktatur befreite und ein parlamentarisch-demokratisches Staatswesen herstellte, danach die Souveränität in einer freien Wahl auf Volkskammer und Regierung übertrug und sie fast im gleichen historischen Augenblick wieder einzog und an die Bundesrepublik übergab. Wer die Dynamik und rationale Strategie des Volkswillens im Herbst miterlebt hat, dem muss der Kontrast zu dem anschließend erfolgenden Mentalitätsbruch auffallen. Bis in die Gegenwart, zehn Jahre danach, leidet das "Ostvolk" daran, man könnte auch sagen: "schämt es sich dafür", dass es 1990 den einfachsten und seit Generationen geübten Weg wählte: den in die Passivität, in die Lethargie, in die politische Haltung des resignierenden "Die da oben machen ja doch, was sie wollen" und "Der kleine Mann ist immer der Dumme". Das erklärt mir vieles an der gegenwärtigen politischen Lage: die Enttäuschung über Helmut Kohl nach vorheriger überschwänglicher Anbetung, die Erfolge der CDU in den östlichen Bundesländern, Ergebnis einer Stimmungslage, die mit der der Adenauerzeit im Westen vergleichbar ist - aber auch das stetige Anwachsen der PDS als Protestpartei insbesondere der mental oder sozial zu kurz Gekommenen.[…] Es erklärt mir auch, warum im Osten die politische Führung der bundesdeutschen Parteiendemokratie - obwohl die Parteien immer wieder gewählt werden - so wenig Ansehen genießt, und warum die Jugend inaktiv bleibt und ihre Energie in private Tätigkeit, Love-Paraden und andere Jugendkulturen investiert.
[…] Allerdings darf man sich nicht wundern, wenn dann das Volk mit bei jeder Umfrage zunehmender Mehrheit trotzig erklärt, dass ihm die so auferlegte Demokratie eher wenig bedeute und dass diejenigen, die glaubten, alles besser zu wissen, es dann eben auch richten sollten, und wenn sie es nicht schafften, selber daran schuld seien. Es ist dies eine pubertäre Haltung, aber diese Diagnose hilft nicht weiter. […] Die Dringlichkeit der äußeren Vereinigung gebe ich ohne weiteres zu und damit auch, dass Helmut Kohl 1990 diese Aufgabe mit großem Geschick und vom Glück begünstigt gemeistert hat. Aber bei der inneren Einheit war dieser äußere Druck nicht mehr maßgebend, und wir hätten sowohl vorsichtiger als auch reform- und experimentierfreudiger vorgehen können.

Rita Süssmuth: […] Zwischen Deutschen in Ost und West gibt es Mentalitätsunterschiede ebenso wie zwischen Deutschen in Nord und Süd, trotzdem gibt es viele Gemeinsamkeiten in den persönlichen Wertorientierungen. Aber es gibt Unterschiede, die für unsere politische Ordnung von Bedeutung sind: der Grad der Zustimmung zur oder Ablehnung der bundesrepublikanischen Demokratie, die Bewertung von Freiheit im Verhältnis zur Gleichheit, die Bewertung der Planwirtschaft im Verhältnis zur sozialen Marktwirtschaft oder die persönliche Empfindung der Zugehörigkeit als Bürger bzw. Bürgerin zur Bundesrepublik Deutschland. Wenn nur 29 Prozent der Ostdeutschen im Vergleich zu 70 Prozent der Westdeutschen der Demokratie, so wie sie in der Bundesrepublik politisch praktiziert wird, zustimmen, so muss sowohl nach den Ursachen als auch nach Konsequenzen und Folgerungen gefragt werden. Das gilt ebenso für erhebliche Abweichungen in den politischen Wertorientierungen von Freiheit im Verhältnis zu Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit. Ostdeutsche halten Gleichheit und soziale Gerechtigkeit gegenwärtig für wichtiger als individuelle Freiheitsrechte. Planwirtschaft wird als das "menschlichere" System bewertet, besser geeignet, soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen. […]Wenn es um die Zukunftsfähigkeit aller Deutschen geht, dann reichen "Ost-West-Vergleiche" allein aber nicht aus, dann ist doch zu fragen, in welcher Verfassung wir Deutschen insgesamt sind, um den Herausforderungen der Zukunft entsprechen zu können. […] Die enormen Investitionen in Ostdeutschland, die großartigen Leistungen der Menschen zur äußeren Veränderung des Landes in so kurzer Zeit sollen dabei in keiner Weise geringgeschätzt oder gar abgewertet werden. Aber es kann doch kein Zweifel darüber bestehen, dass die anfängliche Vorstellung, in Ostdeutschland müsse sich alles ändern, in Westdeutschland hingegen könne alles bleiben, wie es ist, sich als unhaltbar erwiesen hat. Ganz Deutschland steht in einem einschneidenden Transformationsprozess im Berufs- und Arbeitsleben, in Wirtschaft und Sozialstaat, in Bildung und Wissenschaft, im Kommunikations- und Verkehrswesen, letztlich in allen Lebensbereichen. […]Warum hielt diese Aufbruchsstimmung nicht an? Wie erklären wir die beeindruckenden äußeren Veränderungen in Ostdeutschland (Häuser, Straßen, Umwelt) angesichts einer Befindlichkeit, die häufig von Enttäuschung, von Zukunftsskepsis und Unzufriedenheit gekennzeichnet ist? In keinem ehemals kommunistischen Land hat sich das äußere Erscheinungsbild in so kurzer Zeit so grundlegend verändert wie in Ostdeutschland. Und doch ist die generelle Befindlichkeit hier eher schlechter als in den osteuropäischen Nachbarstaaten. Gewiss: Differenzierung tut Not. Wer arbeitslos ist, schaut stärker zurück auf alte soziale Sicherheiten als derjenige, der Arbeit hat. Was beunruhigt, ist das geringe Vertrauen in die Politik, in die Leistungsfähigkeit der parlamentarischen Demokratie. […] Vergessen wir nicht, 1990 sahen infolgedessen auch die Umfragen ganz anders aus als heute. In der Wendezeit hatten das westliche Demokratiemodell und die Marktwirtschaft hohe Akzeptanzwerte im Osten. Mit den realen Erfahrungen der Ostdeutschen sind diese Werte kontinuierlich gesunken. Die Gründe liegen nicht primär in der Sozialisation der Ostdeutschen in den zurückliegenden 40 Jahren, sondern von entscheidendem Einfluss sind die Erfahrungen nach der Wende. Das unmittelbare Erleben der so unterschiedlichen Verhältnisse im Westen und Osten überwältigte und schockierte viele. Die Erwartungen richteten sich auf schnelle Angleichung der Lebensverhältnisse durch eine rasch herbeizuführende Einheit. Diese Erwartungen wurden enttäuscht. Die wirtschaftliche Lage verschlechterte sich zunächst, die Unterschiede in den Lebensverhältnissen blieben. Nach den Volkskammerwahlen überschlugen sich die Ereignisse. Die SED-Diktatur war abgeschafft; aber auch die Zeit der Runden Tische, die politisch hoch aktive Zeit der Bürgerrechtler war beendet. In der Regierung Lothar de Maizière waren die Bürgerrechtler nur marginal vertreten. Die Parlaments- und Regierungsarbeit organisierte sich weitgehend anders in der "alten" Bundesrepublik. Aufgabe der Regierung Lothar de Maizière war es, die deutsche Einheit mit höchstem Tempo voranzutreiben. Darauf drängten die Bürger und Bürgerinnen der DDR, darauf drängte auch die Mehrheit in Bonn. […] Die westlichen Bundesländer treten wieder verstärkt für ihre Interessen ein, für Standorte West, für Verkehrsprojekte West, für Forschungsmittel oder Arbeitsmarktpolitik. Die Solidarität muss stärker als in den ersten Jahren immer wieder neu eingefordert werden. Über Befindlichkeiten in Ost und West ist unter Parlamentariern und Parlamentarierinnen wenig die Rede. Was zusammenführt, sind die gemeinsamen Vorhaben und Herausforderungen. Unterschiedlich werden in Ost und West die Erfordernisse der Arbeitsmarktpolitik bewertet. Aber sehr oft tritt ein, was viele nicht vermuten: Die Bereitschaft zu Reformen, auch zum Umbau des Sozialstaats mit schwierigen Einschnitten findet bei Parlamentariern aus Ostdeutschland mehr Zustimmung als im Westen. Parlamentarisch wurde gelernt, dass wir den Ostdeutschen manches übergestülpt haben, ohne Spielraum zu lassen für eigene Erfahrungen und Vorstellungen. […]

Aus: Jens Reich und Rita Süssmuth: Zehn Jahre deutsche Einheit. Eine kritische Bilanz. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. B 1/2 -2000. http://www.das-parlament.de/beilage/beilage_aktuelle.html (Download 08.03.2002).

Arbeitsaufträge

  1. Wie erklärt Jens Reich die politische Passivität und Resignation in Ostdeutschland?
  2. Welche Mentalitätsunterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen sieht Rita Süssmuth?
  3. Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Situationsanalyse?
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