M 09.04 Vergangenheitslastige Gegenwartspolitik?
 


Der Herr Präsident ist arg verstimmt. Bis hier steht ihm die Debatte schimpft er und macht eine Bewegung, als wollte er sich mit der Handkante die Gurgel durchschneiden. Diese ärgerlichen Kommentare zu Rot-Rot, diese blöden Schlagzeilen. "Ich bin nicht bereit, mich ständig von West-Journalisten nach der PDS befragen zu lassen", ruft Wolfgang Thierse. 40 Jahre SED und zwölf Jahre PDS habe er ertragen und "die Nase voll" von dem Thema. Thierse ist richtig in Fahrt, droht jeden Moment aus dem Stuhl zu springen. Bis sein Pressesprecher ihn leise antippt und er zurück ins Polster sinkt.
Er darf nicht reden wie er will und will nicht reden wie er soll, dieser widerspenstige Zeitgenosse, der noch immer fremd wirkt in seinem Bundestagsbüro, wo feiner Stoff die Wände schmückt und die Welt vor dem Fenster eine Baustelle ist. Ins zweithöchste Staatsamt ist Wolfgang Thierse geklettert, als ostdeutsches Gewissen der Nation hat er sich profiliert. Doch wenn er hinausschaut auf Berlin, sieht er eine Stadt, in der die PDS regiert, in der sein Wahlkreis Prenzlauer Berg vom DDR--Regierungsbezirk Pankow geschluckt wurde -- und wo ihm zwei alte Bekannte auf die Nerven gehen. Wolfgang Thierse, Günter Nooke und Werner Schulz wollen bei der Bundestagswahl ein Direktmandat in Berlin-Pankow holen. Ausgerechnet in Pankow, wo die bessere Gesellschaft der DDR zu Hause war und zuletzt knapp 43 Prozent PDS wählten, treten drei Männer gegeneinander an, deren Laufbahn im Umfeld der Bürgerbewegung begann.
Der rote Thierse, der schwarze Nooke und der grüne Schulz, das waren mal drei ostdeutsche Musketiere mit wilden Bärten, die auszogen, für das Gute zu kämpfen. Sie wollten einen neuen Staat, Thierse einen gerechten, Nooke einen anständigen, Schulz wollte endlich Freiheit für alle. Zwölf Jahre sind seither vergangen, die die drei ins Zentrum der Macht und schnell wieder an deren Rand gespült haben. Nun treffen sie als Gegner aufeinander in einem Wahlkampf, in dem alles nach Osten guckt und alte Gewissheiten ins Wanken geraten.
Dass nichts mehr ist wie es mal war, das sieht man ja schon an den Bärten. Die stehen den dreien zwar noch immer im Gesicht, aber gezähmt und diskret zurechtgestutzt. "Bürgerrechtler" mag sich auch keiner mehr nennen lassen. Weil das so ewig gestrig klingt, sagt Werner Schulz, "als hätten wir ewig den Rücken über die Stasi-Akten gebeugt".
Dabei ist Werner Schulz derjenige im Trio, der am besten von früher erzählt, der immer noch ein bisschen wie früher lebt: in einem Altbau in Pankow, wo außen der Putz von der Wand fällt und drinnen recht sparsam geheizt wird. Stapel von Zeitungen hat er im Arbeitszimmer aufgetürmt, das Neue Deutschland und die taz, alte Eckpfeiler seiner Weltanschauung. "Ich kann das Zeug nicht wegwerfen", sagt er, "das bringe ich nicht über Herz und Hirn."
Werner Schulz ist ein schmaler Mann, der sehr ernsthaft dreinschauen kann und es gern gemütlich hat. In Filzpantoffeln schlurft er in die Küche, kommt mit einer Kanne "Earl Vanille" zurück. Er lässt das Telefon heute mal klingeln, zieht sich zurück in dieses Nest, in dem er intellektuell überwintert hat während des "Karrierestaus".
Schulz hat nie verstanden, wieso sie ihn nicht hochkommen ließen bei den Grünen, denen er am liebsten schon vor der Wende beigetreten wäre. Der Sachse versteht sich als 68er, das hat auch mit seinem Vater zu tun. Der war Wehrmachtsoffizier, lebte in Zwickau, verehrte Rommel -- und stritt heftig mit seinem Sohn. Werner Schulz erlebte auch, wie der Vater 1968 in die Fänge der anderen Diktatur geriet, wie die Stasi ihn kujonierte, dass die Schwester wegen Republikflucht einsaß. Der Vater starb früh, zermürbt von der deutschen Teilung, sagt sein Sohn. "Was er prägend hinterlassen hat, ist mein Widerspruchsgeist."
Eigentlich hat Werner Schulz immer widersprochen, bis er nirgends mehr hinein passte. Als Chemiestudent kritisierte er er dem sowjetischen Einmarsch in Prag, 1979 lehnte er die Invasion von Afghanistan ab. Er bezahlte mit der Doktorandenstelle, machte emsig in der Opposition weiter. Auch nach der Wende sagte er öfter Nein, interessierte sich statt für die Stasi für Wirtschaft im Osten, schlug eine schwarz-grüne Koalition vor. "Da bin ich auf die Nase gefallen", sagt er.
Er ist so ein Typ, der nicht vergisst. "Durchaus verletzt" hat ihn, dass die Grünen ihn nicht zum Fraktionschef machten. Unverziehen bleibt, dass Günter Nooke, einst Fraktionssprecher von Bündnis '90 in Potsdam, die Fusion mit den Grünen ablehnte und 1996 mit einem halben Dutzend Bürgerrechtler zur CDU überlief. Und Thierse, der Germanist, der die DDR in einer Nische überdauerte und heute mit den Themen Rechtsextremismus und Demokratie groß rauskommt? "Ohne sein Amt", sagt Schulz, "würde er nie so viel Gehör finden."
Er hat das eigentlich ganz anders ausgedrückt, hat gelästert über Thierse und es dann aus dem Protokoll gestrichen. Werner Schulz kann scharfe Reden halten, aber er erschrickt manchmal vor den eigenen Worten -- und fürchtet die "Plapperkommunikation der Medien". Fragt man ihn nach der Gegenwart, antwortet er mit Geschichten von früher. Was halten Sie von der PDS? "Die demonstrieren gegen Ausländerhass und Atomkraft. Aber als sie noch SED hießen, haben sie den rigorosen Ausbau von Atomkraft betrieben und die Ausländer isoliert."
Keine Zukunft ohne Vergangenheitsbewältigung, das ist die Botschaft der Ost-68er -- die immer weniger Grüne hören wollen. Irgendwann haben sie einander dann aufgegeben, die Grünen den Osten und Schulz die Partei. Doch seit Rot-Rot in Berlin regiert, werden Leute wie er wieder gebraucht. Der traurige Schulz ist wie ausgewechselt, stieß neulich mit einer furiosen Rede Christian Ströbele von der Landesliste. "Wenn die Konjunktur anspringt, springt sie zuerst im Osten an!" jubelte er im Bundestag, die Grünen haben applaudiert. Was macht es schon, dass sie ihn trotzdem nicht ins Wahlkampfteam holten, Schulz passt eben wieder nicht ins Raster, verbiegen wird er sich deshalb nicht. "Ich hasse diese Art von Politik", sagt er irgendwann, "diese Trickserei, bei der es gar nicht mehr um Inhalte geht."
Um das zu verstehen, muss man Günter Nooke sehen, wie er in einem Büro in Prenzlauer Berg sitzt, das breite Kreuz über den Tisch beugt und 14 Leute vom CDU-Ortsverband instruiert. Nooke redet nicht von früher, sondern übers Hier und Jetzt. Was sagt der Wahlkämpfer, wenn einer fragt, wieso Stoiber nicht für den Osten zahlen will? Antwort: "Es geht nicht darum, dem Osten etwas wegzunehmen, sondern das Geld besser zu verteilen." Warum ist Schröder schuld an der Arbeitslosigkeit? "Da gilt versprochen und gebrochen." Eine Dame erkundigt sich nach dem unwürdigen Gezerre ums Zuwanderungsgesetz. Da legt der Gast eine Kunstpause ein. Und sagt: "Die Gefahr ist, dass man sich ein bisschen daran gewöhnt, dass Politik so funktioniert." Günter Nooke ist Vize-Fraktionschef der Union und macht kein Hehl daraus, dass der Parlamentarismus wie ein großer Baukasten funktioniert.
Da gibt es Machtblöcke und Energieströme, Kontakte und Hebel, die man mehr oder weniger effektiv einsetzen kann. Nooke ist Physiker, er hat die Gesetze begriffen, die Politik bewegen. "Pragmatisch" nennt er das. "Er denkt systemisch", hat Marianne Birthler mal gesagt.
Dass bei all dem Taktieren die Überzeugungen abhanden kommen, kann Nooke nicht erkennen. "Wo habe ich denn meine Ideale verraten?" fragt er später bei Grillplatte und Bier. Sicher, er genießt es mit den Großen der Partei "über Deutschland zu reden". Aber er kehrt auch oft zu seinen Wurzeln zurück, nach Forst in Brandenburg, wo die Tischlerei des Großvaters steht. Nooke hängt an seiner Heimat, auch wenn ihn die alten Freunde jetzt manchmal aufregen. Dieser Aufruf von Bürgerrechtlern gegen den Afghanistan-Einsatz, "schwachsinnig". Oder das Kirchenkonzert, das sein Friedenskreis organisierte und von der PDS sponsern ließ, kurz vor der Wahl, "zu blöde, politisch mitzudenken". Günter Nooke poltert gern ein bisschen über die PDS. Fragt dann einer nach, klingt alles viel milder. Draufhauen wie Schulz bringt nichts, sagt er, "wir brauchen uns nicht ständig gegenseitig zu erklären, wo die PDS herkommt". Neulich wollte er das mal Stoiber vermitteln, dem erklärte er wie man sich im Osten benimmt. "Bloß nicht die Wähler beschimpfen, wir sollten die PDS wie eine normale Partei behandeln", sagt Nooke. "Das mit dem Anti-Kommunismus muss man bisschen sachlicher angehen". Nooke haben sie auch nicht ins Wahlkampfteam geholt. Dabei gibt er sich große Mühe, die Herausforderungen der Gegenwart zu meistern. Die Sache mit den Stasi-Akten etwa, die jetzt sein alter Gönner Helmut Kohl wegsperren ließ. Was soll da ein Nooke sagen, der Manfred Stolpe einen Stasi-Spitzel nannte? "Wenn wir uns in die Reihe der Aktenschließer stellen würden, wäre das fatal." Er will für die Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes kämpfen, "für die weitestgehende Beibehaltung der bisherigen Praxis". Dass er sich durchsetzt, bezweifelt er selbst, aber immer noch besser als Wolfgang Thierse, findet er, "der sich jetzt an die PDS ranrobbt".
Nooke und Thierse, das sind in dem Gespann die härtesten Widersacher. Beide sind leidenschaftliche Moralisten, ohne dabei einig zu werden. Thierse sagt Nein zum rechten Konsens im Osten, Nooke zur political correctness des Westens. Thierse zettelte den "Aufstand der Anständigen" an, wo Tausende gegen Rechts demonstrierten. Nooke fand das "unanständig", weil Paul Spiegel vom Zentralrat der Juden die Leitkultur- Debatte der CDU in einem Atemzug mit brennenden Asylbewerberheimen nannte. Böse Briefe gingen damals hin und her, Nooke fühlte sich als Rechtsaußen hingestellt. "Ich habe etwas dagegen, dass man Rechts immer nur schlecht findet", erklärt er. Von Thierses "übermoralisierender Art" hat er genug.
Der Präsident, wie gesagt, darf nicht reden wie er möchte, weshalb er manches runterschluckt. Und damit er nicht erstickt an all der Diplomatie, flüchtet Thierse manchmal aus dem Büro und hinaus zu echten Menschen. Als Bürger verkleidet streift er durch den Wahlkreis, mit Baskenmütze und dickem Schal, und man könnte ihn für einen normalen Spaziergänger halten, wären da nicht die gepanzerten Limousinen, die ihm wie große schwarze Katzen nachschleichen.
Thierse nennt seinen Wahlkreis "Nordost", er redet auch nicht gern davon, dass die PDS hier zuletzt mit 19 Prozent vor der SPD lag. "Das möcht' schon sein, dass ich hier gewinne", sagt er. Es möchte sein, muss aber nicht, was für einen Mann mit seinem Job unerfreulich wäre. Also setzt er sich bei den Menzels aufs Sofa und hört Klagen über die Straßenbahn. Direkt am Haus rattert die vorbei, "da denkste hier landet ein Flugzeug", sagt Frau Menzel. Hm, brummt Thierse, "schreiben Sie mir mal einen Brief".
Ziemlich weit weg sind die Menschen hier von den Debatten, die Thierse so aufregen. Nein, er will die Stasi-Akten nicht schließen, sagt er. Aber man darf doch mal sagen, dass das "Gaucken" im öffentlichen Dienst nicht ewig Sinn macht. Das Land habe sich dem SED-Erbe gestellt, wobei "die mediale Vermarktung des Themas eher Verletzungen verursacht" habe. Also die Archive dichtmachen? Nein, ruft er, es geht um Gerechtigkeit. "Es gibt doch nicht nur im Osten etwas zu bearbeiten". Meister West, Lehrling Ost, das sei vorbei. "Die Umwälzungen, die wir bewältigt haben, befähigen uns, die westdeutsche Gesellschaft zu reformieren." Im Jahr zwölf danach komme es darauf an, "ob einer sich in der Demokratie bewährt hat".
"Mumpitz", sagt Werner Schulz, wenn er sowas hört. Thierse sei unterwegs zu Rot-Rot-Grün, befürchtet Günter Nooke. Fünf Monate bleiben den drei Herren noch für die Debatte, in der sie täglich zorniger werden. Schulz auf die alten Eliten des Ostens, Thierse auf neuen des Westens, Nooke auf das Unverständnis seiner Zeit. Aber vielleicht werden sie ja im Herbst wieder Freunde, wenn die Schacht geschlagen ist. Denn die gewinnt womöglich keiner der drei.

Aus: Constanze von Bullion: Von der Wende verweht. Der Weg der drei Musketiere aus dem Osten: Früher hatten Wolfgang Thierse, Günter Nooke und Werner Schulz einen gemeinsamen Gegner -- heute treten sie gegeneinander an. Süddeutsche Zeitung 13./14.04.2002 (Download: 17.04.2002).

 

Arbeitsaufträge:

  1. Fasse den Text zusammen, indem du einen der drei Politiker anhand der Textaussagen beschreibst.
  2. In welchem Verhältnis standen und in welchem stehen die Politiker zueinander? Wodurch hat sich ihr Verhältnis geändert?
  3. Was ist mit der Botschaft der Ost-68er gemeint: "Keine Zukunft ohne Vergangenheitsbewältigung" ? Warum wollen immer weniger Grüne diese hören?
  4. Wie steht Wolfgang Thierse zur PDS? Was sagt Günter Nooke zum Verhältnis Thierses zur PDS?
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