M 09.06 Vom "Falten gehen" zur demokratischen Wahl
 


[…]Für den 7.Mai 1989 waren in der DDR Kommunalwahlen angesetzt. Die Propagandamaschine lief wie gewohnt auf vollen Touren. Glückliche Bürger lächelten von Plakaten:" DDR- mein Vaterland!" "Den Kandidaten der Nationalen Front Verantwortung und Vertrauen!" stand auf Transparenten. Doch dämmerte den Führungsebenen in Partei und Staat langsam, dass dies keine der üblichen "Wahlen" werden würde, bei denen die meisten Bürger bisher brav ihre "Zettel falteten", um sie ungeprüft in bereitstehende Urnen zu werfen. Weder die Benutzung der Wahlkabinen noch (allzu viele) Gegenstimmen waren dabei eingeplant gewesen. Nun aber liefen bei SED und Staatssicherheit aus der ganzen Republik Berichte ein, dass die Bürger diesmal offenbar gewillt waren, die "Volksaussprachen" in Vorbereitung der Wahlen zu offenen Disputen umzufunktionieren. […] Nicht nur, dass kommunale Missstände und nicht erfüllte Wahlversprechen angeprangert sowie die (von oben ausgewählten) Kandidaten kritisch geprüft wurden, es wurden "auch immer wieder grundsätzliche Fragen der Entwicklung der sozialistischen Demokratie...diskutiert" (Mitter/Wolle 1990, S.31)[…]
Vor allem aber fanden sich am 7. Mai 1989 im ganzen Land Gruppen von Menschen zusammen, die entschlossen waren, von ihrem gesetzlich verbürgten Recht der Wahlkontrolle Gebrauch zu machen. Sie wollten nach Schließung der Wahllokale an der öffentlichen Auszählung der Stimmen teilnehmen. Es war ein offenes Geheimnis in der DDR, dass die bei Wahlen üblichen Ergebnisse (fast hundertprozentige Beteiligung der Wähler und nahezu vollständige Zustimmung zu den Kandidatenlisten der Nationalen Front) nicht auf einer reellen Basis beruhten. […] Obwohl offiziell als freie, gleiche und geheime Wahlen deklariert, schloss die alternativlose Einheitsliste der Nationalen Front eine Entscheidung zwischen verschiedenen Kandidaten von vornherein aus. Es wurden faktisch nicht die Kandidaten einzelner Parteien, sondern der "demokratische Block" insgesamt gewählt. Daher galten auch "Stimmzettel, auf denen einzelne oder mehrere Kandidaten gestrichen, unterstrichen oder angekreuzt...oder weitere Kandidaten hinzugesetzt" waren, weiterhin als gültig[…].
Niemand hatte bis 1989 gewagt, der SED- Führung und den ihr unterstellten Staatsorganen direkt nachzuweisen, dass sie Wahlergebnisse vorsätzlich fälschten. Gehörte dazu doch mehr als der entschlossene Mut eines Einzelnen. Ein wirklicher Nachweis über Wahlfälschungen konnte nur erbracht werden, wenn in nahezu allen Wahllokalen eines Ortes oder Wahlbezirkes neutrale Personen an der Auszählung der Stimmen beteiligt waren, um ihre Erkenntnisse anschließend zusammenzutragen und sie mit den in der regionalen Presse veröffentlichten offiziellen Wahlergebnissen vergleichen können.
Das setzte gemeinsame Absprachen und einen hohen Organisationsgrad voraus - alles "Tatbestände", die in der DDR zu einer Kriminalisierung wegen "antisozialistischer Gruppenbildung" voll ausreichten. Um so erstaunlicher die Zahl der Kommunen und Wahllokale, in denen sich am Abend des 7.Mai 1989 Bürger einfanden, um die Auszählung der Stimmen zu überwachen. Sie kamen aus den unter dem Dach der Kirche agierenden Bürgerrechtsgruppen wie auch aus einem (eher autonomen) linken Spektrum. Viele hatten das Gefühl, endlich etwas für eine konstruktive Veränderung in der DDR tun zu müssen. […]
Die Ergebnisse der Überprüfung waren eindeutig. In nahezu allen Fällen konnte den Behörden Wahlfälschung nachgewiesen werden. Dabei hatte die SED-Führung schon klammheimlich "Zugeständnisse" an die Stimmung in der Bevölkerung gemacht: Das offiziell verkündete Endergebnis der Wahlen wies mit 1,15 Prozent den höchsten Anteil an Nein- Stimmen in der Geschichte der DDR auf. Blieben aber immer noch 98,85 Prozent Zustimmung für die Kandidaten der Nationalen Front (bei einer angeblichen Wahlbeteiligung von 98,78 Prozent). Dies widersprach deutlich den Ergebnissen der autonomen Wahlbeobachter. Die Differenz zu den offiziellen Angaben betrug in einigen Orten bis zehn Prozent.
Bereits am Wahlabend kam es in unterschiedlichen Städten vereinzelt zu Protesten. Rund 270 Vertreter aus der Berliner Bürgerbewegung trafen sich in der Elisabethkirche mit in der DDR akkreditierten Korrespondenten aus der Bundesrepublik zu einer "Wahlparty". "Erlebnisberichte" aus den Wahllokalen wurden ausgetauscht und der Tatbestand des Wahlbetrugs offen benannt. Auf dem Markt in Leipzig wurden protestierende Demonstranten nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr von Sicherheitskräften gepackt und brutal auf bereitstehende Polizeilastkraftwagen geworfen.[…]

Aus: Lindner, Bernd: Die demokratische Revolution in der DDR 1989/90. Bonn 1998 (=Bundeszentrale für politische Bildung. DeutscheZeitbilder)S.25-27.)

 

Arbeitsaufträge:

  1. Warum waren freie Wahlen in der DDR faktisch nicht möglich, obwohl sie doch als solche bezeichnet wurden?
  2. Was verhinderte so lange Zeit, dass die Bürgerinnen und Bürger von ihrem Recht, die Stimmenauszählung zu beobachten, Gebrauch machten?
  3. Was waren die Auslöser und Voraussetzungen im Jahr 1989, die Wahlfälschungen aufzudecken?

(i) hierzu: www.ddr-im-www.de/Publikationen/Wahlbetrug0589.htm: Dokumente zur DDR Geschichte (Falten gehen - Kommunalwahlen in der DDR: Die Bürgerkontrollen der Kommunalwahlen am 7.Mai 1989 aus Sicht des MfS; Geheime Anweisung des Politbüros der SED zur Gültigkeit der Stimmzettel bei den Kommunalwahlen. 15.Juni 1957. ; Erich Honecker im Interview 1990 über seine Sicht der Kommunalwahlen 1989. (Vgl. Judt, Matthias (Hg.): DDR- Geschichte in Dokumenten. Beschlüsse, Berichte, interne Materialien und Alltagszeugnisse. Berlin 1997. (=Bundeszentrale für politische Bildung)

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