M 09.09 Vom Wahlfälscher zum Politiker - "Schlussstrich unter die Vergangenheit"?
 


[…] Nach der Wende hatte die Justiz über 156 des Wahlbetrugs Angeklagte zu entscheiden, unter ihnen der zeitweilige DDR-Ministerpräsident Hans Modrow und der ehemalige Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer. Etwa 40 Prozent aller wegen DDR-Unrechts Verurteilten wurden der Wahlfälschung für schuldig befunden. Die Prozesse gehören zu den umstrittensten Kapiteln der juristischen Aufarbeitung des zweiten deutschen Staates. "Staatskriminalität wird oft mit Menschenrechtsverletzungen gleichgesetzt. Viele verkennen, dass die Verfälschung von Tatsachen ein wesentlicher Bestandteil der Diktatur ist", sagt der Strafrechtler Gerhard Werle. Seit 1996 leitet er zusammen mit Klaus Marxen an der Berliner Humboldt-Universität das Forschungsprojekt "Strafjustiz und DDR-Vergangenheit". Die beiden haben jetzt die erste Dokumentation der Wahlfälschungsprozesse vorgelegt.

Im Verfahren gegen Modrow beschrieb ein Sachverständiger das Dilemma so: "Die Geschichte der Wahlen in der DDR seit 1950 ist die Geschichte ihrer Fälschungen." Als gleich nach der Wende die ersten Prozesse begannen, wurden kritische Stimmen laut. Wo es keine Wahlen gab, konnten sie auch nicht gefälscht werden, hieß es. Jeder habe gewusst, dass Wahlfälschung systemimmanent war; konkurrierende politische Programme hätten nie zur Disposition gestanden. Auch könne die Frage, ob es 1,26 Prozent Gegenstimmen gab oder 8,34 Prozent nicht auf eine Stufe gestellt werden mit Tötung und schwerer Körperverletzung. Die Kritik gipfelte schließlich im Vorwurf der "Siegerjustiz".
Dem Ruf nach Amnestie und Aussöhnung stellten sich ehemalige DDR-Bürgerrechtler entgegen. "Im Nachhinein reden Staatskriminelle immer von Versöhnung und innerem Frieden. Sie lieben diese Vokabeln, und man könnte meinen, dass sie vorher daran gehindert wurden, ihren Lieblingsideen zu folgen", sagt Hans-Joachim Gauck, bis vor kurzem Bundesbeauftragter für die Stasi-Akten. Er glaubt nicht, dass eine Politik des großen Schlussstrichs, wie etwa in Russland, der Wahrheitsfindung dient. "Romantische Idealisten nenne ich Leute, die meinen, dass ehemalige Täter, die nicht mit juristischen Schuldvorwürfen konfrontiert sind, eine größere innere Freiheit haben, die Wahrheit ans Licht zu bringen", sagt Gauck.

[…] "Die Arbeit der Oppositionellen bestand darin, Bürger und Behörden mit den Fakten zu konfrontieren, die das Regime leugnete. Manche haben dafür ihr Leben riskiert", sagt Evelyn Zupke, die im Weißenseer Friedenskreis aktiv war. In den achtziger Jahren verteilte sie in Ost-Berlin Flugblätter über geheime Polizeiaktionen gegen Andersdenkende. Die Diktatur erlebte sie im Alltag als die Unmöglichkeit, sich Wissen über Tatsachen anzueignen. Im Mai 1989 beschloss der Friedenskreis, die tatsächlichen Ergebnisse der Kommunalwahl öffentlich zu machen. Am Wahltag beteiligten sich 150 freiwillige Beobachter und notierten die Ergebnisse der Auszählungen noch in den Wahllokalen. Die Bürgerrechtler errechneten die Differenzen mit den tags darauf in der SED-Presse veröffentlichten Zahlen und stellten Strafanzeigen. "Wir wurden ignoriert, diffamiert, kriminalisiert", sagt Zupke heute.

Auch nach DDR-Recht war Wahlbetrug eine Straftat. Das Wahlgesetz und die Verfassung garantierten freie Wahlen, wenngleich nur auf dem Papier. Mit dem Einigungsvertrag wurde das BRD-Strafrecht gesamtdeutsch verbindlich. Verfolgt werden aber nur Taten, die auch in der DDR strafbar waren. Wahlfälschungsdelikte beschäftigten die Justiz nur im Zusammenhang mit der letzten Kommunalwahl vor der Wende. Da die Opposition Beobachter in fast alle Wahlbezirke entsandt hatte, war die Beweisführung unproblematisch. Noch vor dem 3. Oktober 1990 verurteilten die Gerichte der DDR 25 Angeklagte. Davon waren sechs zuvor in Untersuchungshaft genommen worden. Nach den Maßstäben des Rechtsstaates war dies kaum mehr verhältnismäßig. "Diese Verfahren müssen als Konzession der sich wendenden DDR-Justiz an die Bevölkerung verstanden werden", sagt Klaus Marxen. "Hätte die selbständige DDR noch ein wenig länger existiert, wären die meisten Urteile härter ausgefallen."
Nach dem Beitritt entschieden die Gerichte über 52 Anklagen gegen 82 Beschuldigte. Drei Viertel wurden zu Geld- oder Bewährungsstrafen verurteilt, in 20 Prozent der Fälle kam es zur Einstellung des Verfahrens aus Mangel an Beweisen, vier Angeklagte wurden freigesprochen. Diese Urteile stießen nicht nur bei der ehemaligen DDR-Elite auf Ablehnung. Gewöhnliche Bürger der Ex-DDR und sogar einige Protestierer von 1989 waren inzwischen im innerdeutschen Ost-West-Konflikt verfangen und empfanden das Vorgehen der Justiz als Bedrohung der ostdeutschen Identität. Schließlich ging noch eine dritte Gruppe mit den Strafverfolgern ins Gericht: Es waren ehemalige Opfer, Bürgerrechtler, die für ihren Widerstand teuer bezahlt hatten und die die Urteile gegen die damaligen SED-Funktionäre als zu mild empfanden. "Menschen, deren Würde verletzt wurde, haben oft überzogene Sühneerwartungen", sagt Gauck. "Gerade diejenigen, die ihr Leben lang von einem Rechtsstaat geträumt haben, sollten sich aber keine Justiz wünschen, die ähnlich vorgeht, wie das Regime, das sie hassten."

Aus: Andrea Exler: Die Farce der Wahlen in der ehemaligen DDR Eine Geschichte der Fälschungen. In Berlin wurde die erste Dokumentation der Verfahren wegen Wahlmanipulation vorgelegt. Süddeutsche Zeitung vom 7. November 2000. http://www.rewi.hu-berlin.de/Projekte/PS/rezens_doku.html (Download 08.03.2002).

 

Arbeitsaufträge:

  1. Wähle einen der genannten Zeitungsartikel aus! Setze ihn in Zusammenhang mit dem aufgeführten Text von Andrea Exler.
  2. Was bedeutet Wahlfälschung? Warum wurde dies in der DDR so lange widerspruchslos hingenommen?
  3. Stell dir vor, dass heute ein Politiker der Wahlfälschung angeklagt wäre:
    3.1. Wann ist dies in einer Demokratie überhaupt möglich?
    3.2. Wie würde die Öffentlichkeit reagieren?
  4. Diskutiert, wie Wahlfälschung bestraft werden sollte.
  5. Sollte es eine Bestrafung für die "Wahlfälscher in der DDR" heute noch geben oder sollte man einen "Schlussstrich" ziehen? Ist es deiner Meinung nach richtig, dass Wolfgang Berghofer für das Amt des Oberbürgermeitsters in Dresden für die CDU kandidierte?
  6. Suche im Internet weitere Informationen über Berghofer und andere ehemalige SED- Politiker, die im Zusammenhang mit Wahlfälschungsprozessen stehen.

(i) Pressestimmen zu Wahlfälschungs- Prozessen

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